Zirkuskind
sarkastische Version der Geschichte geliefert
hatte.
»Ach, es war nichts«,
antwortete Farrokh bescheiden. Das stimmte wohl mit der Version des Pater Rektor
überein.
»Aber ich würde
zu gern mehr darüber erfahren!« sagte Martin.
»Wenn Sie ihm Ihre
Geschichte erzählen, bin ich sicher, daß er Ihnen seine erzählt«, sagte Pater Julian
zu Farrokh.
»Vielleicht ein
andermal«, sagte Dr. Daruwalla. Noch nie hatte er sich so dringend gewünscht davonzulaufen.
Er mußte versprechen, sich Martins Vortrag vor dem YWCA , dem Christlichen Verein Junger
Frauen, anzuhören, obwohl er das keineswegs vorhatte. Er würde lieber sterben, als
sich das anzutun. Er hatte schon genug Vorträge von Martin Mills gehört!
»Der YWCA befindet sich übrigens in der Cooperage
Road«, teilte Pater Cecil ihm mit. Da Dr. Daruwalla empfindlich reagierte, wenn
hier in Bombay jemand davon ausging, daß er sich in der Stadt kaum auskannte, fiel
seine Antwort etwas schnippisch aus.
»Ich weiß, wo er
sich befindet!« sagte Farrokh.
Dann auf einmal
tauchte aus dem Nichts ein kleines Mädchen auf. Es weinte, weil seine Mutter, mit
der es nach St. Ignatius gekommen war, um seinen Bruder von der Schule abzuholen,
aus irgendeinem Grund ohne es abgefahren war – wahrscheinlich, weil noch andere
Kinder im Auto saßen und sie sein Fehlen [547] überhaupt nicht bemerkt hatte. Die Jesuiten
nahmen das nicht tragisch. Die Mutter würde bald merken, was passiert war, und zur
Schule zurückkommen. Es ging nur darum, das Kind zu trösten, und außerdem sollte
jemand die Mutter anrufen, damit sie nicht vor lauter Angst, ihre Tochter sei verlorengegangen,
unvorsichtig fuhr. Aber es gab noch ein anderes Problem: Das kleine Mädchen gestand
verschämt, daß es pinkeln mußte. Frater Gabriel erklärte Farrokh, daß es in St.
Ignatius »für Mädchen keinen offiziellen Ort zum Pinkeln« gebe.
»Aber wo pinkelt
dann Miss Tanuja« fragte Martin Mills.
Gratuliere! dachte
Dr. Daruwalla. Er macht sie noch alle verrückt.
»Und unter den Putzleuten
waren auch mehrere Frauen«, fügte Martin hinzu.
»Es gibt doch sicher
auch drei oder vier Lehrerinnen, nicht wahr?« fragte Dr. Daruwalla unschuldig.
Natürlich gab es
für Mädchen ein Örtchen zum Pinkeln! Die alten Männer wußten nur einfach nicht,
wo es sich befand.
»Jemand könnte nachschauen,
ob eine Männertoilette leer ist«, schlug Pater Cecil vor.
»Und einer von uns
könnte die Tür bewachen«, meinte Pater Julian.
Als sich Farrokh
schließlich verabschiedete, erörterten sie noch immer die peinliche Notwendigkeit,
die Regeln zu umgehen. Der Doktor befürchtete, daß das kleine Mädchen noch immer
dringend mußte.
Tetracyclin
Dr. Daruwalla
befand sich auf dem Rückweg in die Klinik für Verkrüppelte Kinder, als ihm klar
wurde, daß er ein neues Drehbuch begonnen hatte und daß diesmal nicht Inspector
Dhar der [548] Star sein würde. Vor seinem inneren Auge sah er einen Bettler, der sich
bei den arabischen Hotels am Marine Drive herumtrieb. Er sah das Halsband der Königin
bei Nacht – diese Kette gelber Smoglichter –, und er hörte Julia sagen, daß Gelb
nicht die richtige Farbe für das Halsband einer Königin sei. Zum erstenmal hatte
Farrokh das Gefühl, daß er kapiert hatte, wie eine Geschichte anfangen mußte: Die
Figuren wurden durch das Schicksal, das sie erwartete, in Bewegung versetzt. Der
Ausgang der Geschichte war in gewisser Weise als Keim schon in der Anfangsszene
enthalten.
Dr. Daruwalla war
erschöpft. Er hatte noch so viel mit Julia zu besprechen, und mit John D. mußte
er auch reden. Der Doktor und seine Frau wollten im Ripon Club zu Abend essen. Dann
wollte er einen ersten Entwurf für eine kurze Rede schreiben, die er demnächst halten
sollte; man hatte ihn gebeten, vor der Gesellschaft zur Rehabilitation Verkrüppelter
Kinder, die zu den treuen Sponsoren der Klinik gehörte, eine kurze Ansprache zu
halten. Aber jetzt war Farrokh klar, daß er die ganze Nacht schreiben würde – und
nicht etwa nur seine Rede. Endlich glaubte er die Idee zu einer Geschichte zu haben,
die zu erzählen sich lohnte. Vor seinem inneren Auge sah er die Figuren am Victoria
Terminus ankommen, und diesmal wußte er, wohin sie gingen. Er fragte sich, ob er
jemals so aufgeregt gewesen war.
Die vertraute Gestalt
in Dr. Daruwallas Wartezimmer lenkte den Doktor von der Geschichte, die er sich
ausgedacht hatte, ab; zwischen den wartenden Kindern fiel der große Mann besonders
auf. Obwohl
Weitere Kostenlose Bücher