Zirkuskind
ihrer zerrütteten Ehe willkommene Gelegenheit, nicht unter demselben
Dach leben zu müssen. Als Kind vermißte Martin Mills immer irgendwelche Kleidungsstücke
und Spielsachen, die zeitweise in den Besitz von Mietern des Hauses in Westwood
übergegangen waren, an das er nur eine vage Erinnerung hatte.
[552] Deutlicher erinnerte
er sich an die Studentin der U.C.L.A. , die als seine Babysitterin fungierte,
weil sie die Angewohnheit hatte, ihn am Arm zu packen und in rasendem Tempo und
normalerweise nicht an den dafür vorgesehenen Übergängen über den Wilshire Boulevard
zu zerren. Sie hatte einen Freund, der auf der Aschenbahn der U.C.L.A. unermüdlich eine Runde nach der
anderen lief, und pflegte mit Martin regelmäßig dorthin zu gehen, um ihm zuzuschauen.
Martin taten die Finger weh, so fest hielt sie seine Hand. Wenn der Verkehr auf
dem Wilshire Boulevard sie zu einer ungewohnt eiligen Überquerung der Straße zwang,
pochte anschließend Martins Oberarm.
Wann immer Danny
und Vera abends ausgingen, bestand Vera darauf, daß Martin in dem zweiten Ehebett
im Zimmer der Babysitterin schlief. Ansonsten umfaßte das Refugium des Mädchens
nur noch eine winzige Kochnische – eine Art Frühstücksecke, auf deren kleiner Theke
ein Schwarzweißfernseher und ein Toaster standen. Hier saß die Babysitterin auf
einem der zwei Barhocker, denn für Stühle und einen Tisch war nicht genügend Platz.
Wenn Martin Mills
mit der Babysitterin in deren Schlafzimmer lag, bekam er oft mit, wie sie masturbierte,
oder stellte, da die Tür und die Fenster luftdicht abgeschlossen waren und ständig
die Klimaanlage lief, morgens beim Aufwachen häufig fest, daß sie masturbiert hatte ; denn wenn sie ihm übers Gesicht
strich und ihm sagte, daß es Zeit sei, aufzustehen und sich die Zähne zu putzen,
rochen die Finger ihrer rechten Hand entsprechend. Dann brachte sie ihn in die Schule,
wobei ihre Fahrweise ebenso rücksichtslos war wie ihre Art, ihn über den Wilshire
Boulevard zu schleifen. Auf dem San Diego Freeway gab es eine Ausfahrt, die das
Mädchen anscheinend jedesmal dazu veranlaßte, angespannt die Luft anzuhalten, was
Martin Mills an das Geräusch erinnerte, das sie beim Masturbieren machte. Deshalb
kniff er unmittelbar vor dieser Ausfahrt auch immer die Augen zu.
[553] Er besuchte eine
gute Schule mit einem »gestrafften« Ausbildungsgang für besonders begabte Kinder,
den die Jesuiten an der Loyola Marymount University abhielten, ein ganzes Stück
von Westwood entfernt. Die Fahrt in die Schule und zurück war halsbrecherisch, und
die Tatsache, daß Martin Mills von Anfang an in einer auch von Universitätsstudenten
frequentierten Einrichtung unterrichtet wurde, schien den Ernst des Jungen noch
zu fördern. Da es sich um ein Experiment im Bereich Früherziehung handelte, das
ein paar Jahre später abgebrochen werden sollte, hatten sogar die Stühle Erwachsenengröße,
und an den Wänden der Klassenzimmer hingen keine Wachsmalkreidebilder und auch kein
Tieralphabet. In der Toilette, die diese begabten Jungen benutzten, mußten sich
die kleineren zum Pinkeln auf einen Hocker stellen – damals gab es noch keine Pinkelbecken
in Rollstuhlhöhe für Behinderte. Sowohl die hoch angebrachten Pinkelbecken als auch
die kahlen Klassenzimmer erweckten den Eindruck, als erhielten diese Kinder die
Mög-lichkeit, ihre Kindheit zu überspringen. Doch Klassenzimmer wie Pinkelbecken
kündeten nicht nur von der Ernsthaftigkeit dessen, worum es hier ging, sondern krankten
auch an derselben Anonymität und Unpersönlichkeit wie die zahlreichen Schlafzimmer
im Leben des jungen Martin.
Wann immer das Haus
in Westwood vermietet wurde, mußten Danny und Vera auch auf die Dienste der Babysitterin
verzichten. Dann war Danny als Chauffeur eingeplant, der Martin aus anderen, ihm
unbekannten Stadtteilen zu seinem gestrafften Unterricht zur Loyola Marymount University
fuhr. Für Martin war das nicht weniger gefährlich als die Fahrt von und nach Westwood
mit der U.C.L.A. -Studentin.
Denn so früh am Morgen hatte Danny stets einen Kater, sofern er nicht noch betrunken
war, und bis es Zeit war, Martin von der Schule abzuholen, hatte Danny schon wieder
angefangen zu trinken. Vera konnte überhaupt nicht fahren. Die ehemalige Hermione
Rosen hatte [554] nie Auto fahren gelernt, was bei Leuten, die ihre Teenagerzeit in
Brooklyn oder Manhattan verbringen, nichts Ungewöhnliches ist. Ihr Vater, der Filmproduzent
Harold Rosen, hatte ebenfalls nie fahren
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