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Zirkuskind

Zirkuskind

Titel: Zirkuskind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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er saß, zog seine militärisch aufrechte Haltung auf der Stelle Farrokhs
Blick auf sich. Die straffe, bläßliche Haut und der schlaffe Mund, die löwengelben
Augen, das infolge der Säure zusammengeschnurrte Ohr und der rohfleischfarbene Flecken,
von dem aus sich ein Streifen am Kiefer entlang und dann seitlich am Hals hinunter
eingebrannt hatte, wo er unter dem [549]  Hemdkragen verschwand – all das stach Dr.
Daruwalla sofort ins Auge.
    Ein Blick auf Mr.
Gargs nervös zuckende, verschränkte Finger bestätigte Farrokhs Verdacht, daß Garg
darauf brannte zu erfahren, worum es sich bei Madhus Geschlechtskrankheit handelte.
Dr. Daruwalla empfand nur ein leeres Triumphgefühl. Sein bescheidener Sieg beschränkte
sich darauf, Garg in diesem Zustand zu sehen – schuldbewußt, bereit, zu Kreuze zu
kriechen, und dazu verurteilt, mitten zwischen den verkrüppelten Kindern zu warten,
bis er an der Reihe war –, weil er schon jetzt wußte, daß mehr als nur die ärztliche
Schweigepflicht ihn daran hindern würde, Deepa und Vinod Mr. Gargs Schuld zu enthüllen.
Außerdem wußten der Zwerg und seine Frau doch sicher längst, daß sich Garg seine
Zeit mit jungen Mädchen vertrieb. Vielleicht zwangen ihn ja seine Gewissensbisse
zuzusehen,wie Deepa und Vinod so viele dieser Mädchen beim Zirkus unterzubringen
und damit zu retten versuchten. Sicher wußten der Zwerg und seine Frau bereits,
was Farrokh erst ahnte: daß viele dieser kleinen Prostituierten lieber bei Mr. Garg
geblieben wären. Vielleicht war Garg, genau wie der Zirkus, und sei es der Great
Blue Nile, immer noch besser als ein Bordell.
    Mr. Garg stand auf
und trat vor Farrokh hin. Die Blicke sämtlicher verkrüppelter Kinder in Dr. Daruwallas
Wartezimmer waren auf die Säurenarbe gerichtet, aber der Doktor schaute nur in das
Weiße von Gargs Augen, das fahlgelb war – und auf das dunklere, lohfarbene Löwengelb
seiner Iris, das die schwarzen Pupillen noch stärker betonte. Garg hatte dieselben
Augen wie Madhu. Der Doktor fragte sich flüchtig, ob die beiden vielleicht verwandt
waren.
    »Ich war zuerst
hier, vor allen anderen«, flüsterte Mr. Garg.
    »Darauf möchte ich
wetten«, sagte Dr. Daruwalla.
    Wenn es Schuldgefühle
waren, die in Gargs Löwenaugen aufblitzten, verblaßten sie gleich wieder. Jetzt
straffte ein [550]  schüchternes Lächeln seine ansonsten schlaffen Lippen, und in seine
Stimme schlich sich ein verschwörerischer Ton. »Also… ich vermute, sie wissen über
Madhu und mich Bescheid«, sagte Mr. Garg.
    Was soll man einem
solchen Menschen sagen? überlegte Dr. Daruwalla. Es wurde ihm klar, daß Deepa und
Vinod und sogar Martin Mills recht hatten: Sollten alle kleinen Mädchen Zirkusartistinnen
werden, und sei es im Great Blue Nile – selbst auf die Gefahr hin, daß sie abstürzten
und starben! Oder von Löwen gefressen werden! Denn es stimmte, daß Madhu ein Kind
und zugleich eine Prostituierte war – schlimmer, sie war Mr. Gargs Mädchen. Es gab
wirklich nichts, was man einem solchen Mann sagen konnte. Dr. Daruwalla kam nur
eine streng medizinische Frage in den Sinn, und er stellte sie Garg so unumwunden
wie möglich.
    »Sind Sie allergisch
auf Tetracyclin?« fragte der Doktor.

[551]  17
    Merkwürdige Sitten
    Südkalifornien
    Martin
Mills hatte eine lange Leidensgeschichte in fremden Schlafzimmern hinter sich; schlaflos
lag er in seiner Zelle in der Missionsstation St. Ignatius. Zunächst befolgte er
den Rat der heiligen Theresia von Ávila – die von ihr bevorzugte geistliche Übung,
die es ihr gestattete, die Liebe Christi zu erfahren –, aber nicht einmal dieses
Hilfsmittel half dem neuen Missionar einzuschlafen. Der Grundgedanke bestand darin,
sich vorzustellen, daß Christus einen sah. »Mira que te mira«, sagte die heilige Theresia. »Sieh,
wie er dich ansieht.« Aber so sehr Martin Mills dies auch versuchte, ihm wurde keine
Tröstung zuteil. Er konnte einfach nicht einschlafen.
    Die Erinnerung an
die vielen Schlafzimmer, die er dank seiner schrecklichen Mutter und seines bemitleidenswerten
Vaters über sich hatte ergehen lassen müssen, war ihm zuwider. Schuld daran war
die Tatsache, daß Danny Mills einen überhöhten Preis für ein Haus in Westwood gezahlt
hatte, das zu bewohnen sich die Familie nur selten leisten konnte. Es lag in der
Nähe des Campus der University of California, Los Angeles, und war ständig vermietet,
so daß Danny und Vera von der Miete leben konnten. Dies verschaffte ihnen häufig
die angesichts

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