Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Zirkuskind

Zirkuskind

Titel: Zirkuskind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
Vom Netzwerk:
dieser Werbespot der erste Schauspieljob
seiner Mutter seit Jahren.)
    »Ich habe eine furchtbare
Aversion gegen trockene Haut«, sagt Vera in den Make-up-Spiegel (und in die Kamera).
»In dieser Stadt überlebt nur die Jugend.« Die Kamera tastet sich an ihre Mundwinkel
heran, und ein hübscher Finger trägt die Feuchtigkeitscreme auf. Sind das die verräterischen
Linien des Alters, die wir da entdecken? Etwas scheint die Haut ihrer Oberlippe
dort, wo sie auf den genau umrissenen Lippenrand trifft, zu kräuseln, [575]  aber dann
ist die Lippe wie durch ein Wunder wieder glatt; möglicherweise ist es nur unsere
Einbildung. »Hundert Pro, daß Sie mir nicht zu sagen wagen, daß ich alt werde«,
sprechen die Lippen. Martin Mills war davon überzeugt, daß das ein Kameratrick war.
Das vor der Nahaufnahme war seine Mutter; aber die Lippen, die man vergrößert sah,
waren ihm nicht vertraut – vermutlich gehörten sie zu einem anderen, jüngeren Mund.
    Dieser Werbespot
war bei den Neuntkläßlern in Fessenden besonders beliebt. Wenn sich die Jungen gelegentlich
in derWohnung eines Betreuers versammelten, um sich eine Sendung im Fernsehen anzuschauen,
reagierten sie stets bereitwillig auf die Aufforderung, die die stark vergrößerten
Lippen aussprachen: »Hundert Pro, daß Sie mir nicht zu sagen wagen, daß ich alt
werde.«
    »Du bist schon alt!«
schrien dann die Jungen. Nur zwei von ihnen wußten, daß die Hollywood-Schauspielerin
Veronica Rose Martins Mutter war. Martin hätte das nie von sich aus zugegeben, und
Arif Koma war ein loyaler Zimmergenosse.
    Er sagte jedesmal: »Für mich sieht sie jung genug aus.«
    Deshalb war es doppelt
peinlich, als Martins Mutter im Speisesaal des Ritz zu Arif sagte: »Einzelheiten
interessieren mich furchtbar wenig. Hundert Pro, daß du es nicht schaffst, mir den
Unterschied zwischen einer Botschaft und einem Konsulat schmackhaft zu machen… Los,
ich gebe dir eine Minute.« Martin wußte, daß Arif sicher auch wußte, daß das »furchtbar«
und der Ausdruck »Hundert Pro« aus dem Werbespot für Feuchtigkeitscreme stammten.
    In ihrer beider
Geheimsprache sagte Martin Mills plötzlich: »Fürchterlich.« Er dachte, Arif würde
es verstehen. Martin wollte damit sagen, daß seine eigene Mutter ein F-Wort verdient
hatte, aber Arif nahm Vera ernst.
    »Eine Botschaft
wird von einem Botschafter geleitet und hat die Aufgabe, einen Staat in einem anderen
zu vertreten«, erklärte der Türke. »Ein Konsulat ist das Amtsgebäude eines Konsuls, [576]  der einfach ein von der Regierung eines Landes ernannter Bevollmächtigter ist
und sich um dessen wirtschaftliche Interessen und das Wohlergehen seiner Bürger
in einem anderen Land zu kümmern hat. Mein Vater ist türkischer Generalkonsul in
New York, da New York von wirtschaftlicher Bedeutung ist. Ein Generalkonsul ist
der höchstrangige Konsulatsbeamte und verantwortlich für die ihm unterstehenden
Konsularagenten.«
    »Das waren nur dreißig
Sekunden«, teilte Martin Mills seiner Mutter mit, aber Vera achtete gar nicht auf
die Zeit.
    »Erzähl mir was
über die Türkei«, sagte sie zu Arif. »Du hast dreißig Sekunden.«
    »Türkisch ist die
Muttersprache von über neunzig Prozent der Bevölkerung, und die besteht zu über
neunundneunzig Prozent aus Muslimen.« An dieser Stelle machte Arif eine Pause, weil
Vera zusammenzuckte – bei dem Wort »Muslime« zuckte sie jedesmal zusammen. »Ethnisch
gesehen sind wir ein Schmelztiegel«, fuhr der Junge fort. »Manche Türken sind blond
und blauäugig. Wir gehören zum Teil dem alpinen Menschenschlag an, das heißt, runde
Köpfe mit dunklen Haaren und dunklen Augen; zum Teil dem mediterranen, dunkel, aber
mit länglichem Kopf; und zum Teil dem mongolischen, mit hohen Wangenknochen.«
    »Und wozu gehörst du ?« unterbrach ihn Vera.
    »Das waren nur zwanzig
Sekunden«, stellte Martin klar, aber es war, als säße er gar nicht mit am Tisch.
Die Unterhaltung fand nur zwischen den beiden statt.
    »Ich gehöre vorwiegend
dem mediterranen Schlag an«, meinte Arif. »Aber meine Wangenknochen sind ein bißchen
mongolisch.«
    »Das glaube ich
nicht«, sagte Vera. »Und woher stammen deine Augenwimpern?«
    »Von meiner Mutter«,
antwortete Arif schüchtern.
    »Glückliche Mutter«,
sagte Veronica Rose.
    »Wer möchte was
essen?« fragte Martin. Er war der einzige, [577]  der auf die Speisekarte sah. »Ich
glaube, ich nehme den Truthahn.«
    »Bei euch gibt es
sicher merkwürdige Sitten«, sagte Vera zu Arif.

Weitere Kostenlose Bücher