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Zirkuskind

Zirkuskind

Titel: Zirkuskind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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»Erzähl mir etwas Merkwürdiges…
ich meine, in sexueller Hinsicht.«
    »Die Ehe zwischen
nahen Verwandten ist erlaubt, sofern man die Inzestregeln des Islam beachtet«, antwortete
Arif.
    »Etwas Merkwürdigeres«,
verlangte Vera.
    »Jungen werden im
Alter zwischen sechs und zwölf Jahren beschnitten«, sagte Arif. Er hatte seine dunklen
Augen niedergeschlagen und ließ sie über die Speisekarte wandern.
    »Wie alt warst du?«
fragte ihn Vera.
    »Es ist eine öffentliche
Zeremonie«, murmelte der Junge. »Ich war zehn.«
    »Dann erinnerst
du dich sicher noch genau daran«, meinte Vera.
    »Ich glaube, ich
nehme auch den Truthahn«, sagte Arif zu Martin.
    »Was ist dir davon
in Erinnerung geblieben, Arif?« fragte Vera.
    »Wie man sich bei
der Operation verhält, hat Einfluß auf den Ruf der Familie«, antwortete Arif, sah
beim Sprechen aber seinen Zimmergenossen an und nicht dessen Mutter.
    »Und wie hast du
dich verhalten?« wollte Vera wissen.
    »Ich habe nicht
geweint, denn damit hätte ich meine Familie entehrt«, erklärte der Junge. »Ich nehme
auch den Truthahn«, wiederholte er.
    »Hattet ihr beiden
nicht erst vorgestern Truthahn?« fragte Vera. »Nehmt doch nicht wieder Truthahn,
das ist doch langweilig! Nehmt etwas anderes!«
    »Also gut, ich nehme
den Hummer«, antwortete Arif.
    »Eine gute Idee,
ich nehme auch den Hummer«, sagte Vera. »Was nimmst du denn, Martin?«
    [578]  »Ich nehme den
Truthahn«, sagte Martin. Seine plötzliche Willensstärke überraschte ihn; darin lag
bereits etwas Jesuitisches.
    Diese konkrete Erinnerung
gab dem Missionar die Kraft, seine Aufmerksamkeit wieder der ›Times of India‹ zuzuwenden,
in der er einen Bericht über eine vierzehnköpfige Familie las, die bei lebendigem
Leib verbrannt war, nachdem eine rivalisierende Familie ihr Haus in Brand gesteckt
hatte. Martin Mills fragte sich, was eine »rivalisierende Familie« sein mochte.
Dann betete er für die vierzehn Seelen, die bei lebendigem Leib verbrannt waren.
    Frater Gabriel,
der von den Tauben geweckt wurde, die sich zum Schlafen niederhockten, entdeckte
den Lichtstreif unter Martins Tür. Zu Frater Gabriels unzähligen Aufgaben in St.
Ignatius gehörte es, die Versuche der Tauben, sich in der Missionsstation zum Schlafen
niederzulassen, zu vereiteln. Der alte Spanier konnte sie im Schlaf ausmachen. Die
vielen Säulen auf dem offenen Balkon im zweiten Stock boten den Tauben fast unbeschränkten
Zugang zu überhängenden Simsen, die Frater Gabriel, einen nach dem anderen, mit
Maschendraht abgedeckt hatte. Nachdem er jetzt die Tauben verscheucht hatte, ließ
er die Trittleiter an der betreffenden Säule stehen. Auf diese Weise würde er am
Morgen wissen, welches Gesims er neu mit Maschendraht verkleiden mußte.
    Als Frater Gabriel
auf dem Rückweg ins Bett wieder an Martin Mills’ Zelle vorbeikam, war das Licht
noch immer an. Er blieb stehen und horchte, weil er befürchtete, der »junge« Martin
könnte krank sein. Doch zu seiner Verwunderung und unendlichen Erleichterung hörte
Frater Gabriel Martin Mills beten. Derlei nächtliche Litaneien ließen Frater Gabriel
darauf schließen, daß Gott den neuen Missionar fest im Griff hatte. Allerdings war
der Spanier überzeugt, daß er das, was er gehört hatte, mißverstanden haben mußte.
Sicher lag das an dem [579]  amerikanischen Akzent, dachte der alte Frater Gabriel,
denn obwohl sich die Stimmlage und die Wiederholungen sehr nach einem Gebet anhörten,
ergaben die Worte absolut keinen Sinn.
    Um sich seine Willenskraft
ins Gedächtnis zu rufen, die ohne Zweifel eine Bekundung des göttlichen Willens
in ihm war, wiederholte Martin Mills immer wieder jenen alten Beweis für seine innere
Entschlossenheit: »Ich nehme den Truthahn«, sagte der Missionar. »Ich nehme den
Truthahn«, wiederholte er, während er auf dem Steinboden neben seinem Feldbett kniete
und das zusammengerollte Exemplar der ›Times of India‹ umklammerte.
    Eine Prostituierte
hatte versucht, seine culpa- Perlen
zu essen, und sie dann weggeworfen; ein Zwerg hatte seine Peitsche; Dr. Daruwalla
hatte er voreilig gebeten, sein Beineisen wegzuwerfen. Es würde eine Zeitlang dauern,
bis ihm der Steinboden an den Knien weh tat, aber er würde auf den Schmerz warten
– ja, er würde ihn sogar begrüßen. »Ich nehme den Truthahn«, betete er. Deutlich
sah er Arif Koma vor sich, der unfähig gewesen war, seine dunklen Augen zu heben
und Veras starren Blick zu erwidern, mit dem sie den beschnittenen

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