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Zirkuskind

Zirkuskind

Titel: Zirkuskind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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Türken eingehend
musterte.
    »Es muß furchtbar
schmerzhaft gewesen sein«, sagte Vera. »Und du hast wirklich nicht geweint?«
    »Damit hätte ich
meine Familie entehrt«, wiederholte Arif. Martin Mills konnte erkennen, daß sein
Zimmergenosse jeden Augenblick zu weinen anfangen würde; er hatte Arif schon früher
weinen sehen. Vera erkannte das ebenfalls.
    »Aber jetzt darfst
du ja weinen«, sagte sie zu dem Jungen. Arif schüttelte den Kopf, aber es kamen
ihm bereits die Tränen. Vera nahm ihr Taschentuch, um Arifs Augen abzutupfen. Eine
Zeitlang bedeckte Arif sein Gesicht ganz mit Veras Taschentuch, das, wie Martin
wußte, stark parfümiert war. Das Parfum seiner Mutter brachte ihn manchmal zum Würgen.
    »Ich nehme den Truthahn,
ich nehme den Truthahn, ich nehme den Truthahn«, betete der Missionar. Es war ein
sehr [580]  gleichförmig klingendes Gebet, fand Frater Gabriel. Eigenartigerweise erinnerte
es ihn an die Tauben, die ganz versessen darauf waren, sich auf den Simsen zum Schlafen
niederzulassen.
    Zwei grundverschiedene Männer, beide hellwach
    Zur selben
Zeit las Dr. Daruwalla eine andere Ausgabe der ›Times of India‹ – die vom heutigen
Tag. Während Martin Mills in der schlaflosen Nacht Höllenqualen erlitt, empfand
Dr. Daruwalla es als erfrischend, so hellwach zu sein. Er benutzte die ›Times of
India‹ , die er nicht ausstehen konnte, lediglich
als ein Mittel, um sich aufzuputschen. Nichts brachte ihn so in Rage wie eine Kritik
über einen neuen Inspector-Dhar-Film. » DAS ÜBLICHE INSPECTOR-DHAR-IDIOM «, verkündete die Überschrift. Farrokh
fand das wie üblich höchst ärgerlich. Der Kritiker gehörte zu jener Sorte von Kulturwächtern,
die sich nie herablassen würden, auch nur ein positives Wort über irgendeinen Inspector-Dhar-Film
zu verlieren. Der Hundehaufen, der Dr. Daruwalla daran gehindert hatte, die Kritik
vollständig zu lesen, war ein Segen gewesen. Und daß er jetzt den ganzen Artikel
las, war eine Art alberner Selbstbestrafung. Schon der erste Satz war schlimm genug:
»Das Problem bei Inspector Dhar ist sein hartnäckiges, nabelschnurhaftes Festhalten
an seinen ersten paar Machwerken.« Farrokh spürte, daß ihm dieser erste Satz die
nötige Wut verschaffte, um die ganze Nacht aufzubleiben und zu schreiben.
    »Nabelschnurhaftes
Festhalten!« empörte sich Dr. Daruwalla laut. Dann riß er sich zusammen, um Julia
nicht zu wecken; sie war ohnehin schon verärgert. Er nahm die ›Times of India‹und legte sie unter die Schreibmaschine,
um zu verhindern, daß sie auf der gläsernen Tischplatte ratterte. Er hatte sich
seine [581]  Schreibutensilien im Wohnzimmer zurechtgelegt, denn sich zu dieser späten
Stunde an seinen Schreibtisch im Schlafzimmer zu setzen, kam nicht in Frage.
    Er hatte noch nie
zuvor versucht, im Wohnzimmer zu schreiben. Der Glastisch war zu niedrig. Als Eßtisch
hatte er auch nie so richtig getaugt. Eigentlich war es eher ein Couchtisch, und
wenn man daran essen wollte, mußte man sich auf ein Kissen auf den Boden setzen.
Jetzt versuchte Farrokh es mit zwei Kissen, um bequemer zu sitzen; die Ellbogen
stützte er rechts und links von der Schreibmaschine auf. Als Orthopäde war ihm klar,
daß diese Haltung für seinen Rücken unklug war. Außerdem lenkte es ihn ab, daß er
durch die Glasplatte seine verschränkten Beine und die nackten Füße sah. Eine Zeitlang
lenkte ihn außerdem noch Julias Zorn auf ihn ab, der seiner Ansicht nach ungerechtfertigt
war.
    Ihr gemeinsames
Abendessen im Ripon Club war ungemütlich und zänkisch verlaufen. Die Ereignisse
des Tages ließen sich schwer zusammenfassen, und Julia war der Meinung gewesen,
daß ihr Mann, als er über seinen Tagesablauf berichtete, zu viele interessante Begebenheiten
verkürzt darstellte. Sie hätte am liebsten den ganzen Abend über das Thema Rahul
Rai als Massenmörder spekuliert. Außerdem fand sie es beunruhigend, daß Farrokh
es für »unangemessen« hielt, daß sie an dem Lunch mit Detective Patel und Nancy
im Duckworth Club teilnahm, denn schließlich würde John D. auch dabeisein.
    »Ich habe ihn gebeten
mitzukommen, weil er ein so fabelhaftes Gedächtnis hat«, hatte Dr. Daruwalla behauptet.
    »Dann habe ich wohl
kein Gedächtnis«, hatte Julia entgegnet.
    Noch frustrierender
war, daß es Farrokh nicht gelungen war, John D. zu erreichen. Er hatte sowohl im
Taj Mahal als auch im Oberoi Towers eine Nachricht hinterlassen, Dhar möge ihn wegen
eines wichtigen Lunchs im Duckworth Club

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