Zirkuskind
heimlich angesehen, als Arif unter der [568] Dusche
oder aus einem anderen Grund nicht im Zimmer war. Anscheinend mochte er (den abgegriffenen
Blättern nach zu schließen) die März- und Augustdamen lieber als die anderen, obwohl
Martin nicht dahinterkam, warum. Aber er sah sich den Kalender auch weder besonders
genau noch besonders lange an. Der kleine Raum, den er sich mit Arif teilte, hatte
keine Tür, sondern nur einen Vorhang, und hätte jemand von der Frühaufsicht ihn
mit dem Badeanzugkalender angetroffen, wären die Frauen (alle zwölf Monate) eingezogen
worden. Und das hätte er Arif gegenüber als unfair empfunden.
Daß die beiden Jungen
bis zu ihrem letzten Jahr in Fessenden Zimmerkameraden blieben, lag weniger an einer
wachsenden Freundschaft als an einem gewissen stillschweigenden gegenseitigen Respekt.
Die Internatsverwaltung ging davon aus, daß man seinen Zimmerkameraden mochte, wenn
man sich nicht über ihn beschwerte. Außerdem waren beide Jungen im selben Sommerlager
gewesen. Im ersten Frühjahr in Fessenden, als Martin seinen Vater arg vermißte und
sich auf die häuslichen Schrecken, die ihn in den Sommermonaten zu Hause in L. A.
erwarteten, regelrecht freute, hatte Vera dem Jungen eine Broschüre über ein Sommerlager
geschickt. Dort würde er die Ferien verbringen. Die Angelegenheit war bereits beschlossen
– es handelte sich nicht etwa um einen Vorschlag –, und als Martin die Broschüre
durchblätterte, sah sich Arif mit ihm die Fotos an.
»Ich kann ebensogut
auch dorthin fahren«, hatte der Türke zu Martin gesagt. »Ich meine, irgendwo muß
ich ja hin.«
Aber es gab noch
einen anderen Grund, warum sie beisammenblieben: Sie waren beide unsportlich, und
keiner hatte das Bedürfnis, sich dem anderen gegenüber körperlich überlegen zu zeigen.
In einer Schule wie Fessenden, in der Sport Pflichtfach war und sämtliche Jungen
fieberhaft miteinander wetteiferten, konnten Arif und Martin ihre Unsportlichkeit
nur dadurch aufrechterhalten, daß sie Zimmergenossen blieben. Gemeinsam [569] witzelten
sie darüber, daß die von Fessenden in sportlicher Hinsicht am heftigsten verachteten
Rivalen zwei Schulen waren, die Fay und Fenn hießen. Sie fanden es komisch, daß
diese Schulen ebenfalls mit einem »F« begannen, so als würde dieser Buchstabe eine
sportliche Verschwörung signalisieren – einen furor athleticus . Nachdem Arif und Martin gemeinsam
zu dieser Einschätzung gelangt waren, ersannen sie geheime Mittel und Wege, um ihre
Verachtung für die in Fessenden herrschende Sportbesessenheit zum Ausdruck zu bringen.
Sie beschlossen nicht nur, unsportlich zu bleiben, sondern wollten von nun an für
alles, was sie an dieser Schule widerlich fanden, ein F-Wort verwenden.
Die vorherrschenden
Farben der Schuluniformhemden, einer Button-down-Variante in diversen Rosa- und
Gelbtönen, nannten die Jungen »formidabel«. Eine unattraktive Lehrersfrau bezeichneten
sie als »formlosen Flop«. Auf die Schulvorschrift, daß der oberste Hemdknopf stets
geschlossen zu sein hatte, wenn man eine Krawatte trug, reagierten sie mit »feudal«.
Weitere Lieblingswörter, geeignet für die diversen Begegnungen mit Lehrkörper und
Mitschülern, waren »fad«, »fadenscheinig«, »fäkal«, »falsch«, »farblos«, »faschistisch«,
»faszinös«, »fatal«, »faulig«, »fehl am Platz«, »feige«, »feist«, »fies«, »filzig«,
»final«, »fischig«, »frappant«, »frigide« und »furios«.
Diese kurzen adjektivischen
Signale machten ihnen Spaß. Martin und Arif hatten, wie viele Zimmergenossen, einen
Geheimbund geschlossen. Natürlich führte das dazu, daß andere Jungen sie als Fummler,
Fräuleins, frivole Früchtchen und falsche Fuffziger bezeichneten, aber die einzige
sexuelle Aktivität, die in ihrem gemeinsamen Schlafraum stattfand, war Arifs regelmäßiges
Masturbieren. Als sie in die neunte Klasse aufrückten, bekamen sie ein Zimmer mit
einer richtigen Tür. Daraufhin gab sich Arif weniger Mühe, seine Taschenlampe zu
verstecken.
Bei dieser Erinnerung
wurde dem 39jährigen Missionar, der sich allein und hellwach in seiner Zelle in
St. Ignatius befand, [570] klar, daß das Thema Masturbieren heimtückisch war. Er unternahm
einen verzweifelten Versuch, sich von dem Thema abzulenken, auf das er unweigerlich
zusteuerte – seine Mutter –, setzte sich kerzengerade auf seiner Pritsche auf, knipste
das Licht an und begann aufs Geratewohl in der ›Times of India‹ herumzulesen. Dabei
war es nicht
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