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Zirkuskind

Zirkuskind

Titel: Zirkuskind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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einmal eine halbwegs aktuelleAusgabe. Die Zeitung, die zusammengerollt
unter der Pritsche lag, wo sie schnell zur Hand war, um Küchenschaben oder Stechmücken
zu erschlagen, war mindestens zwei Wochen alt. So kam es, daß der junge Missionar
mit der ersten jener Übungen begann, mit deren Hilfe er sich in Bombay zu orientieren
beabsichtigte. Eine wichtigere Frage, nämlich ob irgend etwas in der ›Times of India‹
stand, was Martins Erinnerung an seine Mutter und ihre Verquickung mit dem unliebsamen
Thema Masturbieren hätte entschärfen können, würde vorerst unbeantwortet bleiben.
    Wie es der Zufall
wollte, fiel Martins Blick als erstes auf die Heiratsanzeigen. Er las, daß sich
ein 32jähriger Lehrer, der eine Frau suchte, zu einem »leichten Schielen auf einem
Auge« bekannte; ein Staatsdiener (mit eigenem Haus) gab »eine leichte Asymmetrie
der Beine« zu, behauptete aber, tadellos gehen zu können, und meinte, er würde auch
eine behinderte Frau in Betracht ziehen. An anderer Stelle suchte ein »kinderloser
Witwer um die Sechzig mit weizenfarbenem Teint« einerseits eine »schlanke, schöne,
einfache, weizenfarbene, nichtrauchende, vegetarische Abstinenzlerin unter 40 mit
markantem Gesicht«, erklärte andererseits aber recht tolerant, daß Kastenzugehörigkeit,
Sprache, gesellschaftliche Position und Bildung für ihn »keine Hindernisse« seien.
(Das war natürlich eine von Ranjits Anzeigen.) Eine Braut, die einen Bräutigam suchte,
pries sich als Besitzerin »eines attraktiven Gesichts und eines Stickdiploms« an.
Ein anderes »schlankes, schönes, einfaches Mädchen«, das Computerwissenschaften
studieren wollte, suchte einen [571]  unabhängigen jungen Mann, der »ausreichend gebildet«
war, um nicht »die üblichen Vorbehalte bezüglich heller Hautfarbe, Kaste und Mitgift«
zu haben.
    So ziemlich alles,
was Martin Mills aus dieser Eigenwerbung und den angegebenen Wünschen schließen
konnte, war, daß »einfach« tüchtig im Haushalt bedeutete und daß mit einem »weizenfarbenen
Teint« eine halbwegs helle Haut gemeint war – wahrscheinlich ein helles Gelbbraun,
wie das von Dr. Daruwalla. Martin hätte unmöglich darauf kommen können, daß der
»kinderlose Witwer um die Sechzig mit weizenfarbenem Teint« Ranjit war. Er hatte
Ranjit kennengelernt, und Ranjit war dunkelhäutig und garantiert nicht »weizenfarben«.
Dem Missionar erschienen sämtliche Heiratsanzeigen – diese in Worte gefaßten Sehnsüchte
nach einem Leben zu zweit – einfach nur traurig und verzweifelt. Er stand von seinem
Feldbett auf und zündete eine neue Moskitospirale an, nicht weil er irgendwelche
Mücken entdeckt hatte, sondern weil Frater Gabriel ihm die letzte angezündet hatte
und Martin selbst eine anzünden wollte.
    Er überlegte, ob
sein ehemaliger Zimmergenosse, Arif Koma, einen »weizenfarbenen« Teint gehabt hatte.
Nein, Arif war dunkler gewesen, dachte Martin, dem wieder einfiel, was für eine
reine Haut der Türke gehabt hatte. Für einen Teenager war eine reine Haut ungleich
wichtiger als deren Farbe. In der neunten Klasse mußte sich Arif bereits jeden Tag
rasieren, wodurch sein Gesicht reifer wirkte als die Gesichter seiner Klassenkameraden.
Doch im Hinblick auf die Körperbehaarung war Arif noch ein absolutes Kind – unbehaarte
Brust, glatte Beine, ein mädchenhaft unbehaarter Po… Merkmale, die gleichbedeutend
waren mit femininer Glätte. Obwohl die beiden seit drei Jahren dasselbe Zimmer bewohnten,
fing Martin erst in der neunten Klasse an, Arif schön zu finden. Später wurde ihm
klar, daß ihm selbst diese erste Wahrnehmung von Arifs Schönheit von Vera eingepflanzt
worden war. »Und wie geht es deinem hübschen Zimmergenossen, [572]  diesem schönen Jungen?«
pflegte sie zu fragen, sooft sie ihn anrief.
    In Internaten war
es üblich, daß Eltern, die zu Besuch kamen, ihre Kinder zum Abendessen ausführten;
die Zimmergenossen wurden häufig mit eingeladen. Verständlicherweise besuchten Vera
und Danny ihren Sohn nie gemeinsam, sondern getrennt – wie ein geschiedenes Ehepaar,
obwohl sie nicht geschieden waren. Danny lud Martin und Arif in den Thanksgiving-Ferien
normalerweise in einen Gasthof in New Hampshire ein, Vera neigte eher zu Kurzbesuchen
mit einer Übernachtung.
    An dem verlängerten
Thanksgiving-Wochenende im neunten Schuljahr kamen Arif und Martin in den Genuß
des Gasthofs in New Hampshire und eines eintägigen Besuchs von Vera mit Übernachtung – von Samstag auf Sonntag. Danny
brachte

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