Zirkuskind
die Jungen nach Boston zurück, wo Vera sie im Ritz erwartete. Sie hatte
eine Suite mit zwei Schlafzimmern gemietet. Ihres war ziemlich prunkvoll, hatte
ein riesengroßes Bett und ein luxuriöses Bad. Die Jungen bekamen das kleinere Schlafzimmer
mit zwei Ehebetten, Dusche und Toilette.
Martin hatte es
zuvor in dem Gasthof in New Hampshire recht gut gefallen. Dort hatten sie ähnliche
Zimmer gehabt, nur anders verteilt. Arif bekam ein eigenes Schlafzimmer mit Bad,
während Danny und sein Sohn ein Zimmer mit Ehebetten hatten. Danny entschuldigte
sich bei Arif für diese erzwungene Trennung von Martin. »Danach hast du ihn wieder
die ganze Zeit als Zimmergenossen«, hatte Danny dem Türken erklärt.
»Klar, ich verstehe
schon«, hatte Arif gesagt. Schließlich war in der Türkei das höhere Alter ausschlaggebend
dafür, wem Vorrang und Achtung gebührte. »Ich bin es gewohnt, ältere Leute zu achten«,
hatte Arif liebenswürdig hinzugefügt.
Leider trank Danny
zuviel, so daß er beinahe auf der Stelle einschlief und zu schnarchen begann. Martin
war enttäuscht, daß sie sich so wenig unterhalten hatten. Aber bevor Danny [573] abgekippt
war und sie beide im Dunkeln wach gelegen hatten, hatte der Vater zu seinem Sohn
gesagt: »Ich hoffe, daß du glücklich bist. Ich hoffe, du vertraust dich mir an,
wenn du irgendwann mal nicht glücklich bist – oder sag mir wenigstens, was du so
denkst, ganz allgemein.« Bevor Martin überlegen konnte, was er sagen sollte, hörte
er seinen Vater schnarchen. Trotzdem hatte er Dannys fürsorgliches Angebot zu schätzen
gewußt. Wer am Morgen Dannys liebevolle Zuneigung und seinen Stolz miterlebte, hätte
meinen sollen, daß Vater und Sohn ein vertrauliches Gespräch geführt hatten.
Am anschließenden
Samstag abend in Boston wollte Vera sich nicht weiter wegbewegen als bis in den
Speisesaal des Ritz. Ihr Himmel war ein gutes Hotel, und in dem befand sie sich
bereits. Aber die Kleiderordnung für den Speisesaal des Ritz war noch strenger als
die in Fessenden. Der Maˆıtre d’hôtel hielt sie an, weil Martin zu seinen Slippern
weiße Sportsocken trug. Vera sagte lediglich: »Ich wollte dich schon darauf aufmerksam
machen, Liebling, jetzt tut das jemand anderes.« Sie gab ihm den Zimmerschlüssel,
damit er andere Socken anziehen konnte, während sie mit Arif wartete. Martin mußte
sich ein Paar von Arifs wadenlangen schwarzen Socken ausleihen. Dieser Vorfall lenkte
Veras Aufmerksamkeit auf die Tatsache, um wieviel selbstverständlicher Arif »anständige«
Kleidung trug. Sie wartete, bis Martin in den Speisesaal nachgekommen war, bevor
sie diese Beobachtung aussprach.
»Das kommt sicher
daher, daß du an das Leben in Diplomatenkreisen gewöhnt bist«, sagte Martins Mutter
zu dem türkischen Jungen. »Vermutlich gibt es in der türkischen Botschaft alle möglichen
Gelegenheiten, zu denen man sich in Schale werfen muß.«
»Im türkischen Konsulat«,
stellte Arif, sicher schon zum zehntenmal, richtig.
»Einzelheiten interessieren
mich furchtbar wenig«, erklärte [574] Vera dem Jungen. »Hundert Pro, daß du es nicht
schaffst, mir den Unterschied zwischen einer Botschaft und einem Konsulat schmackhaft
zu machen… Los, ich gebe dir eine Minute.«
Martin war das peinlich,
weil ihm diese Art von Gedöns an seiner Mutter neu war. Sie war eine recht ordinäre
junge Frau gewesen und hatte seit ihren verruchten Sturm- und Drangjahren nichts
an Bildung hinzugewonnen. Doch mangels weiterer Schauspielerengagements verlegte
sie sich darauf, die Sprache der gebildeten Oberschicht nachzuahmen. Vera war schlau
genug, um zu wissen, daß Verruchtheit bei älteren Frauen eher abstoßend wirkte.
Was das Adverb »furchtbar« und die kecke Floskel »Hundert Pro« betraf, schämte sich
Martin, weil er wußte, woher Vera diese affigen Ausdrücke hatte.
In Hollywood gab
es einen versnobten Briten, noch so einen Möchtegern-Regisseur, der an einem Film
gescheitert war, zu dem Danny das erfolglose Drehbuch geschrieben hatte. Um sich
zu trösten, hatte der Brite eine Reihe von Werbespots für eine Feuchtigkeitscreme
gemacht. Sie zielten auf die reifere Frau ab, die sich Mühe gab, ihre Haut geschmeidig
zu erhalten, und Vera hatte diesen Part gespielt.
Schamlos saß seine
Mutter in einem Mieder, das einiges enthüllte, vor einem Make-up-Spiegel – einem
dieser Dinger mit hellen Glühlampen ringsherum. Eingeblendet war die Unterzeile: VERONICA
ROSE, HOLLYWOOD-SCHAUSPIELERIN . (Soweit Martin wußte, war
Weitere Kostenlose Bücher