Zirkuskind
zurückrufen, aber Dhar hatte nichts von
sich hören lassen. Wahrscheinlich war [582] er wegen der Sache mit dem unangekündigten
Zwilling noch immer eingeschnappt, auch wenn er das nie zugegeben hätte.
Julia hatte an Farrokhs
»massiver Einmischung« (wie sie es nannte) Anstoß genommen und auch an dem Übereifer,
mit dem er die arme Madhu und den elefantenfüßigen Ganesh im Great Blue Nile Circus
unterzubringen suchte. Warum hatte er früher nie eine solche doch recht fragwürdige
Rettungsaktion für verkrüppelte Bettler und Kindprostituierte unternommen? Dr. Daruwalla
ärgerte sich, weil ihn bereits ähnliche Zweifel plagten. Und dann äußerte sie sich
auch noch kritisch zu dem Drehbuch, das dem Doktor so auf den Nägeln brannte. Wie
konnte Farrokh ausgerechnet jetzt so egoistisch sein – womit sie unterstellte, daß
es selbstsüchtig von ihm war, an seine Schreiberei zu denken, während sich im Leben
anderer Menschen so viele gewaltsame und traumatische Dinge ereigneten.
Sie kabbelten sich
sogar, was sie im Radio hören wollten. Julia wollte am liebsten einschläfernde Musik:
»Lieder-Potpourri« und »Regionale Unterhaltungsmusik«. Dr. Daruwalla hingegen blieb
bei einem Interview mit einem Autor hängen, der sich erbost darüber beklagte, daß
in Indien »nichts bis zum Schluß durchgezogen« würde. »Wir machen immer nur halbe
Sachen!« beschwerte er sich. »Nie gehen wir einer Sache auf den Grund!« rief er.
»Kaum haben wir unsere Nase in etwas Interessantes gesteckt, ziehen wir sie schon
wieder zurück!« Farrokh verfolgte gespannt, wie sich der Schriftsteller ereiferte,
aber Julia schaltete auf einen Sender mit »Instrumentalmusik«. Als Dr. Daruwalla
den schimpfenden Schriftsteller endlich wiedergefunden hatte, empörte sich dieser
über ein Ereignis, von dem er eben gehört hatte. Aus der Alexandria Girls’ English
Institution waren eine Vergewaltigung und ein Mord gemeldet worden. Dazu hatte der
Schriftsteller folgenden Bericht gehört: »In der Alexandria Girls’ English Institution
fanden heute doch keine Vergewaltigung und kein Mord statt, wie zu einem früheren
Zeitpunkt irrtümlich [583] berichtet wurde.« Das waren Dinge, die den Schriftsteller
verrückt machten. Farrokh vermutete, daß er Sachen dieser Art meinte, wenn er sich
beklagte, daß »nichts bis zum Schluß durchgezogen« würde.
»Es ist wirklich
lächerlich, sich das anzuhören!« hatte Julia gesagt, worauf der Doktor sie ihrer
»Instrumentalmusik« überlassen hatte.
Jetzt schob Dr.
Daruwalla das alles beiseite. Er dachte an die vielen unterschiedlichen Formen des
Hinkens, die er gesehen hatte. Den Namen Madhu würde er in seinem Drehbuch nicht
verwenden; er würde das Mädchen Pinky nennen, weil Pinky ein echter Star war. Sie
sollte auch viel jünger sein als Madhu, so daß sexuelle Dinge noch keine Bedrohung
darstellten – zumindest nicht in Dr. Daruwallas Geschichte.
Für den Jungen war
Ganesh genau der richtige Name, aber im Film würde er älter sein als das Mädchen.
Farrokh würde das Alter der echten Kinder einfach vertauschen. Er würde seinen Ganesh
zwar arg humpeln lassen, ihm aber keinen annähernd so grotesk zerquetschten Fuß
geben, zumal es auch zu schwierig wäre, einen Kinderdarsteller mit einer so häßlichen
Mißbildung zu finden. Und außerdem sollten die Kinder eine Mutter haben, weil der
Drehbuchautor bereits plante, wie er sie ihnen wegnehmen würde. Geschichtenerzählen
war ein erbarmungsloses Geschäft.
Dr. Daruwalla überlegte
kurz, daß es ihm weder je gelungen war, dieses Land, aus dem er stammte, zu begreifen,
noch es zu lieben. Ihm wurde klar, daß er dabei war, ein Indien zu erfinden, das
er sowohl begreifen als auch lieben konnte – eine vereinfachte Version. Aber nach
und nach verflüchtigten sich seine Selbstzweifel – eine absolute Notwendigkeit,
um überhaupt mit einer Geschichte beginnen zu können.
Die Geschichte sollte
durch die Jungfrau Maria ins Rollen gebracht werden. Farrokh dachte dabei an das
Standbild der [584] unbekannten Heiligen in der St. Ignatius-Kirche, die mit einer
Kette und einer Metallkrampe im Zaum gehalten werden mußte. In Wirklichkeit war
das gar keine Jungfrau Maria, aber für Dr. Daruwalla war sie es eben doch geworden.
Der Ausdruck gefiel ihm so gut, daß er ihn niederschrieb: »Eine Geschichte, die
von der Jungfrau Maria ins Rollen gebracht wird.« Schade, daß das kein brauchbarer
Titel war. Dafür mußte er etwas Griffigeres finden. Aber
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