Zirkuskind
der Satz erlaubte ihm immerhin
anzufangen. Er schrieb ihn, einmal, zweimal: »Eine Geschichte, die von der Jungfrau
Maria ins Rollen gebracht wird.« Dann strich er ihn so dick durch, daß nicht einmal
er selbst ihn noch lesen konnte. Dafür sagte er ihn sich mehrmals laut vor.
So kam es, daß mitten
in der Nacht, während mindestens sechs Millionen Einwohner von Bombay auf den Gehsteigen
der Stadt fest schliefen, diese zwei Männer hellwach waren und vor sich hin murmelten.
Der eine redete nur mit sich selbst – »Eine Geschichte, die von der Jungfrau Maria
ins Rollen gebracht wird« – und konnte auf diese Weise zu schreiben anfangen. Der
andere sprach nicht nur mit sich selbst, sondern auch mit Gott. Verständlicherweise
war sein Gemurmel etwas lauter. Er sagte: »Ich nehme den Truthahn« und hoffte, daß
ihn die Wiederholung dieses Satzes davor bewahrte, von jener Vergangenheit verschlungen
zu werden, die von allen Seiten auf ihn einstürmte. Dieser Vergangenheit hatte er
seinen zähen Willen zu verdanken, der seiner Ansicht nach der Wille Gottes in ihm
war. Trotzdem hatte er Angst vor der Vergangenheit.
»Ich nehme den Truthahn«,
sagte Martin Mills. Inzwischen begannen seine Knie zu pochen. »Ich nehme den Truthahn,
ich nehme den Truthahn, ich nehme den Truthahn.«
[585] 18
Eine Geschichte, die von der Jungfrau Maria ins Rollen gebracht wird
Limo-Roulette
Am Morgen
fand Julia Farrokh zusammengesunken auf dem Glastisch, als wäre er eingeschlafen,
während er seine rechte große Zehe durch die Glasplatte hindurch betrachtete. Es
war die Zehe, in die der Affe gebissen hatte und deretwegen die Familie in religiöse
Bedrängnis geraten war. Julia war dankbar, daß der Affenbiß weder blindwütige noch
dauerhafte Folgen gehabt hatte, fand es aber doch beunruhigend, ihren Mann in Anbetung
dieser Zehe vorzufinden. Als sie dann die Seiten des neu entstehenden Drehbuchs
entdeckte, war sie erleichtert, weil ihr klar wurde, daß Farrokhs aufmerksamer Blick
ihnen gegolten hatte und nicht seiner Zehe. Die Schreibmaschine hatte er beiseite
geschoben; die getippten Seiten waren mit handschriftlichen Korrekturen übersät,
und in der rechten Hand hielt der Doktor noch immer den Bleistift. Es war, als hätte
sich ihr Mann in den Schlaf geschrieben. Offenbar bahnte sich da eine neue Inspector-Dhar-Katastrophe
an, wenn auch Dhar eindeutig nicht die Hauptfigur war; nach den ersten fünf Seiten
fragte sich Julia, ob Dhar in dem Film überhaupt vorkam. Sehr merkwürdig! dachte
sie. Insgesamt waren es fünfundzwanzig Seiten. Sie nahm sie mit in die Küche, wo
sie Kaffee für sich selbst und Tee für Farrokh machte.
Die Stimme, die
das Geschehen kommentierte, gehörte einem zwölfjährigen Jungen, der von einem Elefanten
verstümmelt worden war. Das darf doch nicht wahr sein, das ist ja Ganesh! dachte
Julia. Sie kannte den Betteljungen, denn wann immer sie [586] das Apartmenthaus verließ,
war er da und folgte ihr. Sie hatte ihm alle möglichen Sachen gekauft, von denen
er die meisten freilich weiterverscherbelte, aber sein ungewöhnlich gutes Englisch
hatte sie bezaubert. Im Gegensatz zu ihrem Mann wußte Julia, warum Ganesh ein so
gepflegtes Englisch sprach.
Als er einmal vor
dem Taj Mahal gebettelt hatte, war er einem englischen Ehepaar aufgefallen, das
sich mit einem schüchternen Jungen auf Reisen befand. Er war ein bißchen jünger
als Ganesh und wollte, da er sich einsam fühlte, unbedingt einen Spielkameraden.
Mit dieser Familie, die auch noch ein Kindermädchen im Schlepptau hatte, war Ganesh
über einen Monat lang umhergereist. Sie hatten ihn verköstigt und eingekleidet und
ihn ungewohnt sauber gehalten – sie ließen ihn sogar von einem Arzt untersuchen,
um sicherzugehen, daß er keine ansteckenden Krankheiten hatte –, nur damit ihr einsamer
Sohn jemanden zum Spielen hatte. Das Kindermädchen, das gehalten war, dem kleinen
Engländer mehrere Stunden am Tag Sprachunterricht zu erteilen, brachte Ganesh in
dieser Zeit Englisch bei. Und als die Familie wieder nach England zurückkehrte,
ließ sie Ganesh einfach dort zurück, wo sie ihn aufgelesen hatte – bettelnd vor
dem Taj Mahal. In Windeseile verkaufte Ganesh die unnötigen Kleider. Nur das Kindermädchen
fehlte ihm eine Zeitlang, wie er behauptete. Diese Geschichte hatte Julia gerührt,
obwohl sie ihr gleichzeitig ziemlich unwahrscheinlich vorkam. Aber warum sollte
der Junge sie erfunden haben? Und jetzt verwendete ihr Mann den armen Krüppel für
einen
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