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Zirkuskind

Zirkuskind

Titel: Zirkuskind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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Wohltäter gefunden; bis der
Zirkus ihn aufnahm, würde er sich mit dem Rücksitz von Vinods Ambassador begnügen
– im Vergleich zu seinen gewohnten Schlafplätzen immerhin ein Fortschritt.
    »Guten Morgen, Ganesh«,
sagte der Doktor. Der Junge war auf der Stelle hellwach – aufmerksam wie ein Eichhörnchen.
    »Was machen wir
heute?« fragte er.
    »Keine Vogeldrecktricks
mehr«, sagte der Doktor.
    Mit einem schmallippigen
Lächeln gab der Junge zu erkennen, daß er verstanden hatte. »Aber was machen wir?«
wiederholte er.
    »Wir fahren zu mir
in die Klinik«, sagte Dr. Daruwalla. »Dort warten wir ein paar Untersuchungsergebnisse
von Madhu ab, und dann sehen wir weiter. Und heute morgen wirst du so freundlich
sein, die operierten Kinder, die unten im Hof ihre Krankengymnastik machen, mit
deinem Vogeldrecktrick zu verschonen.« Die schwarzen Augen des Jungen folgten blitzartig
den Bewegungen des Verkehrs. Im Rückspiegel konnte der Doktor Madhus Gesicht sehen.
Sie hatte nicht reagiert – sie hatte nicht einmal in den Spiegel geblickt, als ihr
Name fiel.
    »Was mich betrifft…
die Sache mit dem Zirkus…«, begann Dr. Daruwalla. Dann machte er bewußt eine Pause.
Das Wort Zirkus hatte Ganeshs volle Aufmerksamkeit geweckt, nicht aber die von Madhu.
    »Meine Arme sind
ganz prima, sehr stark. Ich könnte auf einem Pony reiten. Wenn man so kräftige Hände
hat wie ich, [592]  braucht man dazu keine Beine«, schlug Ganesh vor. »Ich könnte eine
Menge Kunststücke machen. Ich könnte mich mit den Armen an einen Elefantenrüssel
hängen. Oder vielleicht auf einem Löwen reiten.«
    »Ich fürchte eher,
daß man dich diese Kunststücke nicht machen lassen wird, diese nicht und überhaupt
keine«, erwiderte Dr. Daruwalla. »Man wird dir alle miesen Jobs übertragen, die
ganze harte Arbeit. Zum Beispiel die Elefantenscheiße wegzuräumen. An einem Elefantenrüssel
hängen, das schlag dir lieber gleich aus dem Kopf.«
    »Ich muß den Leuten
eben zeigen, was ich kann«, sagte Ganesh. »Aber was macht man mit den Löwen, um
sie dazu zu kriegen, daß sie auf diese kleinen Hocker steigen?«
    »Deine Aufgabe würde
darin bestehen, die Löwenpisse von den Hockern abzuwaschen«, erklärte ihm Farrokh.
    »Und was macht man
mit den Tigern?« fragte Ganesh.
    »Du würdest mit
den Tigern nur eines machen, nämlich ihre Käfige säubern – von Tigerscheiße!« sagte
Dr. Daruwalla.
    »Ich muß den Leuten
eben zeigen, was ich kann«, wiederholte der Junge. »Vielleicht mach ich was mit
ihren Schwänzen. Tiger haben lange Schwänze.«
    Der Zwerg bog in
den großen Kreisverkehr ein. Der Doktor hatte in solchen Momenten immer Angst, weil
viele Fahrer sich leicht ablenken ließen und auf das Meer und auf die Gläubigen
schauten, die sich in der Schlammzone um Haji Alis Grabmal drängelten. Der Kreisverkehr
befand sich in der Nähe des Tardeo, wo Farrokhs Vater in tausend Stücke zerfetzt
worden war. Jetzt rissen die Autofahrer mitten auf diesem Kreisverkehr das Steuer
herum, um einem verrückten Krüppel auszuweichen, einem Mann ohne Beine, der in einem
behelfsmäßigen, mit einer Handkurbel angetriebenen Rollstuhl gegen den Verkehrsfluß
um den Kreisverkehr herumfuhr. Der Doktor folgte Ganeshs schweifendem Blick. Die
schwarzen Augen des Jungen sahen be [593]  wußt über den Verrückten im Rollstuhl hinweg.
Wahrscheinlich dachte er noch immer an die Tiger.
    Dr. Daruwalla wußte
noch nicht genau, wie der Schluß seines Drehbuchs aussehen würde. Er hatte nur eine
allgemeine Vorstellung, was mit seiner Pinky und seinem Ganesh geschehen würde.
Während sie im Kreisverkehr feststeckten, wurde dem Doktor klar, daß das Schicksal
des echten Ganesh – und auch das von Madhu – nicht in seinen Händen lag. Aber er
fühlte sich für den Anfang ihrer beider Geschichten ebenso verantwortlich wie für
den Anfang seiner erfundenen Geschichte.
    Im Rückspiegel konnte
Dr. Daruwalla sehen, wie Madhus löwengelbe Augen den Bewegungen des Beinamputierten
folgten. Dann mußte der Zwerg scharf bremsen; er brachte sein Taxi mit einem Ruck
zum Stehen, um dem verrückten Krüppel auszuweichen. Sein Rollstuhl trug einen Aufkleber,
der sich gegen hupende Autofahrer richtete.
    ÜBE DICH IN GEDULD
    Neben
dem Verrückten ragte ein zerbeulter Öltanklaster auf, dessen erboster Fahrer wiederholt
auf die Hupe drückte. Auf dem gewaltigen, zylinderförmigen Öltank prangte in dreißig
Zentimeter hohen, leuchtendroten Buchstaben:
    ERSTE WAHL WELTWEIT
GULF

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