Zirkuskind
Kühlschrank oder einer Fleischkammer –, so als wäre die
Klimaanlage des Autos zu kalt eingestellt. Aber vielleicht kann sich der Säuremann
nur bei solchen Temperaturen halten. Vielleicht braucht er die Kälte, um nicht zu
verwesen.
Es lag auf der Hand,
daß die armen Kinder nicht Limo-Roulette hätten spielen müssen, wenn die Jungfrau
Maria nicht von ihrem Podest gefallen wäre und ihre Mutter erschlagen hätte. Was
dachte sich Farrokh bloß dabei? fragte sich Julia, die häufig die Rohfassungen von
Farrokhs Drehbüchern las. Normalerweise hatte sie auch nicht das Gefühl, ein Sakrileg
zu begehen, da er sie beim Schreiben seiner Drehbücher immer mit einbezog. Aber
diesmal sah es so aus, als würde er ihr das Drehbuch nicht zeigen wollen. Es hatte
etwas Verzweifeltes an sich. Wahrscheinlich krankte es daran, daß ihr Mann sich,
anders als bei den Inspector-Dhar-Drehbüchern, zu sehr bemühte, Kunst zu machen
– was natürlich riskanter war. Julia hatte den Verdacht, daß Farrokh dieses Drehbuch
vielleicht zu sehr am Herzen lag.
Deshalb legte sie
das Manuskript an seinen ursprünglichen Platz auf dem Glastisch zurück, ziemlich
genau zwischen die Schreibmaschine und den Kopf ihres Mannes. Farrokh schlief nach
wie vor. Sein einfältig-glückliches Lächeln verriet, daß er träumte; dabei gab er
ein nasales Summen von sich – eine nicht nachvollziehbare Melodie. Die ungute Lage
seines Kopfes auf dem Glastisch ließ ihn wieder zu dem Kind in der St. Ignatius-Schule
werden, das im Klassenzimmer der Winzlinge mit dem Kopf auf dem Schreibpult sein
Mittagsschläfchen hält.
Plötzlich begann
Farrokh im Schlaf zu schnarchen. Julia wußte, daß er jetzt jeden Augenblick aufwachen
würde, erschrak aber doch, als er schreiend hochfuhr. Sie dachte, er hätte einen
Alptraum gehabt, doch wie sich herausstellte, war es ein Krampf in seiner rechten
Fußsohle. Er sah so derangiert aus, daß sie sich für ihn genierte. Dann wurde sie
wieder wütend auf ihn… weil [590] er es für »unangemessen« gehalten hatte, sie an dem
interessanten Lunch mit dem Kommissar und der humpelnden Hippiefrau von vor zwanzig
Jahren teilnehmen zu lassen.
Farrokh trank seinen
Tee, ohne das angefangene Drehbuch zu erwähnen; schlimmer, er versuchte sogar, die
Seiten in seinem Arztkoffer zu verstecken.
Julia nahm seinen
Abschiedskuß sehr distanziert entgegen, blieb aber dennoch in der offenen Wohnungstür
stehen, während er den Liftknopf drückte. Falls ihr Mann erste Symptome künstlerischer
Launenhaftigkeit an den Tag legte, sollte er sie sich schleunigst wieder abgewöhnen.
Julia wartete, bis die Lifttür aufging, bevor sie ihm zurief: »Sollte das jemals
verfilmt werden, wird Mr. Garg dich verklagen.«
Dr. Daruwalla stand
da wie vom Donner gerührt und sah seine Frau ungnädig an, während die Lifttür seinen
Arztkoffer einklemmte und dann wieder aufging. Sie ging noch ein paarmal auf und
zu. Julia warf ihrem Mann einen Handkuß zu, nur um ihn zu ärgern. Die Lifttür öffnete
und schloß sich immer rascher, so daß sich Farrokh fast mit Gewalt in den Lift zwängen
mußte. So blieb ihm keine Zeit mehr, Julia Kontra zu geben, bevor sich die Tür endgültig
schloß und er nach unten fuhr. Es war ihm noch nie gelungen, vor seiner Frau etwas
geheimzuhalten. Außerdem hatte sie recht: Garg würde ihn garantiert verklagen! Dr.
Daruwalla fragte sich, ob der schöpferische Prozeß des Schreibens seinen gesunden
Menschenverstand vernebelt hatte.
Unten in der Seitenstraße
erwartete ihn der nächste Schlag. Als Vinod ihm die Tür des Ambassador aufmachte,
sah er, daß auf dem Rücksitz der elefantenfüßige Betteljunge schlief. Madhu hatte
lieber vorn auf dem Beifahrersitz Platz genommen. Abgesehen von der schorfigen Absonderung
auf den Augenwimpern sah der Junge aus wie ein Engel. Sein zerquetschter Fuß war
mit einem Lumpen bedeckt, den er stets bei sich trug, um den falschen Vogeldreck
abzuwischen; selbst im Schlaf war es Ganesh gelungen, [591] seine Verstümmelung zu
verbergen. Das war kein Drehbuch-Ganesh, sondern ein Junge aus Fleisch und Blut,
und trotzdem ertappte sich Farrokh dabei, wie er sich gleichsam zurücklehnte und
den Krüppel voller Stolz betrachtete, wie eine seiner erfundenen Gestalten. In Gedanken
war er noch immer bei seiner Geschichte. Er dachte darüber nach, daß es ganz und
gar der Einbildungskraft des Autors überlassen blieb, was mit Ganesh als nächstes
geschehen würde. Aber der echte Bettler hatte einen
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