Zirkuskind
der Alternativen! Am Anfang gab es immer
so viele.
Aber wenn es um
Mord und auch wenn es ums Schreiben geht, ist die Euphorie von kurzer Dauer. Farrokh
begann sich Sorgen zu machen, daß sein Meisterwerk bereits zu einer romantischen
Komödie verkommen war. Die beiden Kinder entrinnen in der richtigen Limousine; der
Zirkus ist ihre Rettung. Suman gibt den Deckenlauf auf, um einen Missionar zu heiraten,
der seinerseits das Missionarsdasein aufgibt. Dieses Ende erschien sogar dem Erfinder
von Inspector Dhar zu positiv. Irgend etwas Schlimmes mußte schon noch passieren,
dachte der Drehbuchautor.
So kam es, daß der
Doktor in seinem Zimmer in der Klinik [644] für Verkrüppelte Kinder mit dem Rücken
zum Hof dasaß und nachdachte. Er sollte sich schämen, in einer solchen Umgebung
ein so belangloses Drama auszuhecken.
Keine romantische Komödie
Entgegen
Rahuls Annahme hatte die Polizei die obere Hälfte des silbernen Kugelschreibers
mit dem eingravierten Wort INDIA nicht gefunden. Rahuls Geldclip
lag nicht mehr im Bougainvilleengebüsch, als der Kommissar Mr. Lals Leiche untersuchte.
Das Silber hatte in der Morgensonne so auffallend geglitzert, daß eine Krähe es
mit ihren scharfen Augen erspäht hatte. Und über diese Kugelschreiberkappe entdeckte
die Krähe die Leiche. Zunächst einmal ging sie daran, Mr. Lal ein Auge auszupicken.
Sie war gerade mit der offenen Wunde hinter Mr. Lals Ohr und der zweiten Wunde an
seiner Schläfe beschäftigt, als der erste Geier auf dem neunten Green landete. Die
Krähe verteidigte ihre Stellung, bis weitere Geier kamen; schließlich hatte sie
die Leiche zuerst gefunden. Und bevor sie sich aus dem Staub machte, hatte sie die
silberne Stiftkappe stibitzt. Daß sie ihre Beute prompt in den Deckenventilator
im Speisesaal des Duckworth Club fallen ließ, war nicht unbedingt ein Zeichen für
die besondere Intelligenz dieses Vogels, aber die Ventilatorblätter hatten sich
(um diese Vormittagsstunde) bei jeder Umdrehung aus dem Schatten ins Sonnenlicht
bewegt, und auch dieses Blinken hatte die Krähe mit ihren scharfen Augen erspäht.
Freilich war der Ventilator ein schlechter Landeplatz für eine Krähe, weshalb ein
Kellner den kleckernden Vogel denn auch unsanft weggescheucht hatte.
Der glänzende Gegenstand
jedoch, den sie so hartnäckig im Schnabel gehalten hatte, blieb an einer Stelle
zurück, wo er den Mechanismus des Deckenventilators gelegentlich [645] beeinträchtigte.
Dr. Daruwalla hatte dies bemerkt, und die Landung der kleckernden Krähe auf dem
Ventilator hatte er ebenfalls beobachtet. Und so existierte die Kappe des silbernen
Kugelschreibers derzeit nur in dem überstrapazierten Gedächtnis des Doktors, der
bereits vergessen hatte, daß ihn die zweite Mrs. Dogar an jemand anderen erinnerte
– wahrscheinlich an einen alten Filmstar. Auch seinen schmerzlichen Zusammenprall
mit Mrs. Dogar in der Eingangshalle des Duckworth Club hatte Farrokh vergessen.
Dieses glänzende Etwas, das erst Nancy, dann Rahul und schließlich die Krähe verloren
hatten, war möglicherweise endgültig verloren, da seine Entdeckung jetzt einzig
und allein von Dr. Daruwallas beschränktem Erinnerungsvermögen abhing. Ehrlich gesagt
waren weder das Gedächtnis noch die Beobachtungsgabe des heimlichen Drehbuchautors
besonders gut. Vernünftiger wäre es wohl, sich darauf zu verlassen, daß der Mechanismus
des Deckenventilators das Ding einfach ausspuckte und es Detective Patel (oder Nancy)
wie ein kleines Wunder vor die Füße warf.
Ein solch unwahrscheinliches,
vom Zufall geschicktes Wunder hätte auch Martin Mills zu seiner Rettung gebraucht,
denn die Messe hatte zu spät begonnen, um den Missionar vor seinen schlimmsten Erinnerungen
zu bewahren. Es gab Zeiten, in denen jede Kirche Martin an die Kirche Unserer Lieben
Frau der Siegreichen erinnerte. Wenn sich seine Mutter in Boston aufhielt, ging
Martin stets in diese Kirche in der Isabella Street zum Sonntagsgottesdienst; zu
Fuß brauchte er vom Ritz nur acht Minuten. An jenem langen Thanksgiving-Wochenende
im neunten Schuljahr schlüpfte der junge Martin am Sonntag morgen aus dem Schlafzimmer,
das er mit Arif Koma teilte, ohne diesen aufzuwecken. Im Wohnzimmer der Hotelsuite
stellte er fest, daß die Tür zum Schlafzimmer seiner Mutter nur angelehnt war. Martin
empfand das als typisch für Veras Sorglosigkeit und wollte die Tür gerade schließen
– bevor er die Suite [646] verließ, um in die Messe zu gehen –, als seine Mutter
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