Zirkuskind
Dr. Daruwalla. »Ich glaube, Ihr Vater
hat Rahul mit zwölf oder dreizehn Jahren untersucht. Das müßte 1949 gewesen sein.
Mein Vater hat Rahul untersucht, als er acht oder zehn war. Es geschah auf Tante
Promilas Veranlassung – sie machte sich Sorgen wegen seiner Unbehaartheit. Mein
Vater tat ihre Bedenken als unbegründet ab, aber ich glaube, daß Promila Rai später
Ihren Vater wegen Rahul konsultiert hat, und würde gern wissen, ob es dabei noch
immer um die angebliche Unbehaartheit ging.«
»Warum sollte jemand
Ihren oder meinen Vater wegen Unbehaartheit aufsuchen?« fragte Dr. Tata.
»Eine gute Frage«,
entgegnete Farrokh. »Ich glaube, das eigentliche Problem hatte mit Rahuls sexueller
Identität zu tun. Möglicherweise ging es um eine Geschlechtsumwandlung.«
»Mein Vater hat
keine Geschlechtsumwandlungen vorgenommen!« sagte Tata Zwo. »Er war Gynäkologe und
Geburtshelfer…«
»Das weiß ich«,
sagte Dr. Daruwalla. »Aber vielleicht wurde er gebeten, eine Diagnose zu stellen…
ich spreche von Rahuls Fortpflanzungsorganen und davon, ob da irgendeine Besonderheit
vorlag, die eine operative Geschlechtsumwandlung gerechtfertigt hätte – zumindest
in den Augen des Jungen oder seiner Tante. Falls Sie die Krankengeschichten Ihres
Vaters aufbewahrt haben… die von meinem Vater habe ich noch.«
»Natürlich habe
ich seine Krankengeschichten aufbewahrt!« rief Dr. Tata. »Mr. Subash kann mir die
Unterlagen in zwei Minuten auf den Schreibtisch legen. Ich rufe Sie dann in fünf
Minuten zurück.« Demnach nannte also sogar Tata Zwo seinen Sekretär Mister. Vielleicht
war Mr. Subash, wie Ranjit, ein Sekretär und Arzthelfer, der der Familie treu geblieben
war. Dr. Daruwalla überlegte, daß Mr. Subash (am Telefon) wie ein Mann Mitte Achtzig
geklungen hatte!
Als Dr. Tata nach
zehn Minuten nicht zurückgerufen hatte, [640] überlegte Farrokh weiter, daß in Tata
Zwos Patientenunterlagen vermutlich ein ziemliches Chaos herrschte, denn anscheinend
hatte Mr. Subash die gesuchte Krankengeschichte keineswegs griffbereit. Oder vielleicht
stimmte die Diagnose, die sein Vater bei Rahul gestellt hatte, Tata Zwo nachdenklich?
Wie dem auch sei, Farrokh sagte Ranjit Bescheid, daß er einen Anruf von Dr. Tata
erwartete und ansonsten keine Gespräche entgegennehmen würde.
Dr. Daruwalla hatte
vor dem Lunch im Duckworth Club, dem er mit großer Spannung entgegensah, noch einen
Termin, den er Ranjit bat abzusagen. Dr. Desai aus London hielt sich in der Stadt
auf. In der Zeit, die Dr. Desai neben seiner chirurgischen Praxis blieb, entwickelte
er künstliche Gelenke. Er war ein Mann, für den es nur ein Gesprächsthema gab: den
Austausch funktionsunfähiger Gelenke gegen künstliche. Deshalb war es auch eine
Zumutung für Julia, wenn sich Farrokh mit Dr. Desai im Duckworth Club unterhielt.
Es war einfacher, sich mit Desai in der Klinik zu treffen. »Soll das Implantat mit
Knochenzement im Skelett fixiert werden, oder ist eine biologische Fixierung die
bessere Methode?« Diese Art der Gesprächseröffnung war typisch für Dr. Desai. Er
stellte solche Fragen stets anstelle von: »Wie geht es Ihrer Frau und den Kindern?«
Daß Dr. Daruwalla eine Verabredung mit Dr. Desai in der Klinik absagte, war wie
ein Eingeständnis mangelnden Interesses an seinem eigenen Spezialgebiet, der Orthopädie.
Aber der Doktor war mit seinen Gedanken bei dem neuen Drehbuch – und er wollte schreiben.
Zu diesem Zweck
setzte er sich auf die andere Seite seines Schreibtischs, um die übliche Aussicht
auf das Therapiegelände unten im Hof auszublenden, die ihn nur abgelenkt hätte –
bei einigen seiner frisch operierten Patienten fiel es ihm schwer wegzusehen, wenn
sie ihre Krankengymnastik machten. Dr. Daruwalla fühlte sich eher zu einer Scheinwelt
hingezogen als zu einer Auseinandersetzung mit der Welt, in der er lebte.
[641] Die wirklichen
Dramen, von denen es ringsum nur so wimmelte, nahm Inspector Dhars Erfinder größtenteils
gar nicht wahr. Die arme Nancy mit ihren Waschbäraugen zog sich für Inspector Dhar
besonders sorgfältig an. Der berühmte Schauspieler, der weder auf der Bühne noch
vor der Kamera stand, spielte trotzdem Theater. Mr. Sethna, der so gut wie alles
heftig mißbilligte, hatte entdecken müssen, daß menschlicher Urin für das Bougainvilleen-Sterben
verantwortlich war. Und das war nicht das einzige Sterben im Duckworth Club, wo
Rahul sich bereits als Witwe Dogar sah. Doch solche Ereignisse konnten
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