Zirkuskind
Dr. Daruwalla
nichts anhaben. Statt dessen betrachtete er das Zirkusfoto auf seinem Schreibtisch,
um sich davon inspirieren zu lassen.
Da war die wunderschöne
Suman – Suman, die »Himmelsläuferin«, wie Dr. Daruwalla sie nannte. Als er sie das
letzte Mal gesehen hatte, war sie noch nicht verheiratet gewesen – eine 29jährige
Starartistin und das Idol aller Kinder im Zirkus, die zu Artisten ausgebildet wurden.
Der Drehbuchautor fand, daß es für Suman höchste Zeit war zu heiraten. Sie sollte
sich mit praktischeren Dingen beschäftigen, als kopfunter die Kuppel des Spielzelts
zu durchqueren, fünfundzwanzig Meter über dem Boden und ohne Netz. Eine so schöne
Frau wie Suman sollte nach Ansicht des Drehbuchautors unbedingt heiraten. Suman
war Artistin, keine Schauspielerin. Farrokh wollte seine Zirkusgestalten im Film
nur wenig als Schauspieler agieren lassen. Ganesh freilich würde von einem hervorragenden
Schauspieler gespielt werden müssen, aber seine Schwester Pinky würde die echte
Pinky aus dem Great Royal Circus sein. Sie würde als Artistin auftreten, so daß
sie kaum zu reden brauchte. (Ich muß ihre Dialoge auf ein Minimum beschränken, dachte
der Drehbuchautor.)
Farrokh griff sich
selbst vor, indem er bereits die Filmrollen besetzte. Im Drehbuch mußte er die Kinder
erst noch beim Zirkus unterbringen. An dem Punkt fiel Dr. Daruwalla der neue [642] Missionar
ein. Im Film würde er nicht Martin Mills heißen – der Name Mills war zu nichtssagend –, sondern schlicht »Mr. Martin«. Die Jesuiten in der Missionsstation würden die
beiden Kinder in ihre Obhut nehmen, weil sie sich in gewisser Weise dafür verantwortlich
fühlten, daß ihre Mutter von der kippeligen Statue der Jungfrau Maria in der St.
Ignatius-Kirche getötet worden war. Und somit würde es den Kindern gelingen, sich
für die richtige Limousine zu entscheiden, die von Vinod. Freilich müßte der sogenannte
Barmherzige Zwergsamariter von den Jesuiten erst noch die Erlaubnis erhalten, die
Kinder beim Zirkus unterzubringen. Ja, das ist genial! dachte Dr. Daruwalla. Auf
diese Weise würden sich Suman und Mr. Martin kennenlernen. Der aufdringliche Moralapostel
bringt die Kinder in den Zirkus, und dort verliebt sich der Dummkopf in die Himmelsläuferin!
Warum nicht? Der
Jesuit würde bald feststellen, daß Suman einem Leben in Keuschheit vorzuziehen war.
Farrokh würde seinem fiktiven Mr. Martin, der natürlich mit einem exzellenten Schauspieler
besetzt werden mußte, eine ungleich gewinnendere Persönlichkeit verleihen, als Martin
Mills sie besaß. Mr. Martins Verführung würde im Grunde die Geschichte einer Ent kehrung sein. Farrokhs nächster Gedanke
war ziemlich boshaft: John D. würde einen perfekten Mr. Martin abgeben. Wie glücklich
ihn das machen würde, einmal nicht Inspector Dhar sein zu müssen!
Ein tolles Drehbuch
würde das werden, eine echte Verbesserung gegenüber der Wirklichkeit! An dieser
Stelle wurde Dr. Daruwalla klar, daß ihn nichts daran hinderte, sich selbst in den
Film einzubauen. Wahrscheinlich würde er sich nicht als Helden darstellen – eine
Nebenfigur mit edlen Absichten würde genügen. Aber wie sollte er sich beschreiben?
überlegte Farrokh. Er wußte nicht, daß er gut aussah, und sich selbst als »hochintelligent«
zu bezeichnen, hätte er nie über sich [643] gebracht. Außerdem konnte man in einem
Film nur zeigen, wie jemand wirkte.
In den Klinikräumen
des Doktors gab es keinen Spiegel, und deshalb sah er sich so, wie er sich in dem
großen Spiegel in der Eingangshalle des Duckworth Club zumeist erlebte: als im duckworthianischen
Sinn eleganten Gentleman. Ein so vornehmer Arzt konnte durchaus eine kleine und
dennoch entscheidende Rolle im Drehbuch spielen, weil der Missionar und Weltverbesserer
natürlich von dem Gedanken besessen sein würde, daß sich Ganeshs Hinken beheben
ließ. Im Idealfall würde Mr. Martin den Jungen von keinem anderen als Dr. Daruwalla
untersuchen lassen. Und der Doktor würde die bittere Wahrheit aussprechen: daß Ganesh
seine Beine zwar mit bestimmten Übungen kräftigen konnte – auch das verkrüppelte
Bein –, daß er aber sein Leben lang hinken würde. (Ein paar Szenen, in denen der
verkrüppelte Junge tapfer solche Übungen macht, wären vermutlich hervorragend geeignet,
das Mitgefühl des Publikums zu wecken.)
Wie Rahul genoß
Dr. Daruwalla dieses Stadium des Geschichtenerzählens – das Ausspinnen der Handlung.
Dieses prickelnde Gefühl beim Ausloten
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