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Zirkuskind

Zirkuskind

Titel: Zirkuskind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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verstorbene
Tante. Sie wäre jederzeit bereit, jemanden oder etwas lächerlich zu machen, egal
was.«
    »Ja, ja«, sagte
Dr. Daruwalla ungeduldig, »aber vergiß nicht, daß sie auch eine Gafferin ist.«
    »Entschuldigen Sie…
eine was?« fragte Detective Patel.
    »Das liegt in der
Familie. Sie starrt alle Leute an. Rahul ist eine zwanghafte Gafferin!« wiederholte
Farrokh. »Sie tut das nicht vorsätzlich, weil sie unhöflich sein will, sondern weil
sie voll ungenierter Neugier steckt. Wie ihre Tante, nur noch ausgeprägter! Rahul
wurde so erzogen. Ohne jede Bescheidenheit. Jetzt ist sie wahrscheinlich sehr feminin,
nehme ich an, aber nicht mit ihren Blicken. In der Beziehung ist sie ein Mann. Sie
taxiert einen von oben bis unten und schaut einen so lange an, bis man den Blick
abwendet.«
    »Waren Sie fertig?«
fragte der Kommissar Dhar.
    »Ich glaube schon«,
antwortete der Schauspieler.
    »Ich habe sie nicht
deutlich gesehen«, sagte Nancy plötzlich. »Es gab kein Licht, oder zumindest war
es recht schwach, nur eine Öllampe. Ich habe nur einen flüchtigen Blick auf sie
geworfen, und außerdem war ich krank. Ich hatte Fieber.«
    Sie spielte mit
der unteren Hälfte des Kugelschreibers auf dem Tisch herum, legte sie im rechten
Winkel zu ihrem Messer und dem Löffel hin, dann wieder parallel. »Sie roch gut und
hat sich sehr seidig angefühlt, aber kräftig«, fügte Nancy hinzu.
    »Schildere sie so,
wie sie jetzt wäre, nicht wie sie damals war«, sagte Patel. »Wie wäre sie jetzt?«
    »Die Sache ist die«,
sagte Nancy, »ich glaube, sie hat das Gefühl, daß sie etwas in sich nicht kontrollieren
kann, daß sie [684]  bestimmte Dinge einfach tun muß. Sie kann sich nicht beherrschen.
Die Sachen, die sie möchte, sind einfach zu stark.«
    »Was für Sachen?«
fragte der Detective.
    »Das weißt du. Wir
haben darüber gesprochen«, antwortete Nancy.
    »Sag es den anderen«,
forderte ihr Mann sie auf.
    »Sie ist geil. Ich
glaube, sie ist die ganze Zeit geil«, erklärte Nancy.
    »Mit drei- oder
vierundfünfzig Jahren ist das ungewöhnlich«, bemerkte Dr. Daruwalla.
    »Das ist genau das
Gefühl, das sie einem vermittelt… glauben Sie mir«, sagte Nancy. »Sie ist fürchterlich
geil.«
    »Erinnert Sie das
an irgend jemanden, den Sie kennen?« fragte der Detective Inspector Dhar, aber Dhar
sah weiterhin Nancy an, ohne mit den Achseln zu zucken. »Oder Sie, Doktor… erinnert
Sie das an irgend jemanden?« fragte der Kommissar Farrokh.
    »Sprechen Sie von
jemandem, den wir tatsächlich kennen? Als Frau?« fragte Dr. Daruwalla den Kommissar.
    »Genau«, sagte Detective
Patel.
    Ohne den Blick von
Nancy zu wenden, sagte Dhar: »Mrs. Dogar.« Farrokh legte beide Hände auf die Brust,
genau an die Stelle, wo der vertraute Schmerz in den Rippen plötzlich so heftig
wurde, daß er ihm die Luft abschnürte.
    »Sehr gut, sehr
eindrucksvoll«, sagte Detective Patel. Er langte über den Tisch und tätschelte Dhars
Handrücken. »Sie hätten keinen schlechten Polizisten abgegeben, auch wenn Sie sich
nicht bestechen lassen.«
    »Mrs. Dogar!« wiederholte
Dr. Daruwalla atemlos. »Ich hab’s doch gewußt, daß sie mich an jemanden erinnert!«
    »Aber irgend etwas
stimmt nicht, habe ich recht?« fragte Dhar den Kommissar. »Ich meine, Sie haben
sie nicht verhaftet.«
    »Genau«, sagte Patel. »Etwas stimmt nicht.«
    [685]  »Ich habe dir
gleich gesagt daß er wissen würde, wer es war«, sagte Nancy zu ihrem Mann.
    »Ja, Herzchen«,
sagte der Detective. »Aber es ist kein Verbrechen, daß Rahul Mrs. Dogar ist.«
    »Wie sind Sie dahintergekommen?«
fragte Dr. Daruwalla den Kommissar. »Natürlich! Die Mitgliederliste!«
    »Das war ein guter
Anfang«, sagte Detective Patel. »Das Vermögen von Promila Rai hat ihre Nichte geerbt,
nicht ihr Neffe.«
    »Ich wußte gar nicht,
daß es da eine Nichte gab«, sagte Farrokh.
    »Gab es auch nicht«,
antwortete Patel. »Ihr Neffe Rahul ist nach London gegangen und als Nichte zurückgekommen.
Er hat sogar ihren Namen angenommen – Promila. In England ist es absolut legal,
sein Geschlecht umwandeln zu lassen. Und es ist absolut legal, seinen Namen zu ändern,
sogar in Indien.«
    »Rahul Rai, verheiratete
Mrs. Dogar?« fragte Farrokh.
    »Auch das war absolut
legal«, entgegnete der Detective. »Verstehen Sie denn nicht, Doktor? Die Tatsache,
daß Sie und Dhar bezeugen können, daß Rahul damals in Goa war, im Hotel Bardez,
ist noch kein Beweis dafür, daß Rahul je am Tatort war. Und Nancy

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