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Zirkuskind

Zirkuskind

Titel: Zirkuskind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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Blick des Doktors als Aufforderung, an den Tisch zu kommen.
    »Wie wäre es mit
einem Aperitif vor dem Lunch?« fragte der Butler das verlegene Quartett. Da das
Wort ›Aperitif‹ in Iowa nicht häufig benutzt worden war – auch kannte Nancy es weder
von Dieter noch aus ihrem gemeinsamen Leben mit Vijay Patel –, gab sie Mr. Sethna,
der sie direkt ansah, keine Antwort. (Wenn überhaupt, dann war Nancy diesem Wort
höchstens in einem ihrer amerikanischen Romane begegnet, doch hätte sie sicher nicht
gewußt, wie man es ausspricht, und wäre fraglos davon ausgegangen, daß es für das
Verständnis der Handlung auch unwesentlich war.)
    »Hätte die Dame
vor dem Lunch vielleicht gerne etwas zu trinken?« fragte Mr. Sethna, wobei er Nancy
noch immer ansah. Keiner am Tisch konnte hören, was sie antwortete, aber der alte
Butler verstand, daß sie flüsternd um ein Thums Up Cola gebeten hatte. Der Kommissar
bestellte eine Gold Spot Orangenlimonade, Dr. Daruwalla ein London Diät Bier, und
Dhar wollte ein Kingfisher.
    »Na, das kann ja
heiter werden«, scherzte Dr. Daruwalla. »Zwei Abstinenzler und zwei Biertrinker!«
Trotzdem kam die Unterhaltung einfach nicht in Schwung, was den Doktor zu einem
ausführlichen Diskurs über die Geschichte der mittäglichen Speisekarte veranlaßte.
    [679]  Sie hatten den
»chinesischen Tag« im Duckworth Club erwischt, den kulinarischen Tiefpunkt der Woche.
In früheren Zeiten hatte es unter dem Küchenpersonal einen chinesischen Koch gegeben,
und der »chinesische Tag« war ein epikuräisches Vergnügen gewesen. Aber dieser chinesische
Koch hatte den Club verlassen, um ein eigenes Restaurant zu eröffnen, und die derzeitige
Riege von Köchen brachte kein chinesisches Essen zustande. Trotzdem unternahmen
sie unverdrossen jede Woche einmal den Versuch.
    »Wahrscheinlich
ist es das beste, sich an ein vegetarisches Gericht zu halten«, empfahl Farrokh.
    »Als Sie die Leichen
zu Gesicht bekamen«, fing Nancy plötzlich an, »sahen sie wahrscheinlich ziemlich
übel aus.«
    »Ja, leider hatten
die Krabben sie schon vorher gefunden«, antwortete Dr. Daruwalla.
    »Aber die Zeichnung
war doch wohl noch deutlich zu erkennen, sonst hätten Sie sich ja nicht daran erinnert«,
meinte Nancy.
    »Ja, es war wasserfeste
Tinte, da bin ich sicher«, sagte Dr. Daruwalla.
    »Es war ein Wäschemarkierungsstift,
und er gehörte einem dhobi «,
erklärte Nancy dem Doktor, obwohl es aussah, als würde sie Dhar anschauen. Da sie
ihre Sonnenbrille aufhatte, wußte man nicht so recht, wen sie ansah. »Wissen Sie,
ich habe sie begraben«, fuhr Nancy fort. »Ich habe sie nicht sterben sehen, aber
gehört habe ich es. Das Geräusch des Spatens«, fügte sie hinzu.
    Dhar sah sie weiterhin
an, ohne seine Oberlippe zu einem deutlichen Hohnlächeln zu verziehen. Nancy nahm
die Sonnenbrille ab und steckte sie wieder in ihre Handtasche. Dabei fiel ihr Blick
auf etwas, was sie stutzen ließ. Nachdem sie ihre Unterlippe drei oder vier Sekunden
mit den Zähnen festgehalten hatte, fischte sie aus ihrer Tasche die untere Hälfte
des silbernen Kugelschreibers, den sie zwanzig Jahre lang auf Schritt und Tritt
mit sich herumgetragen hatte.
    [680]  »Die andere Hälfte
hat er gestohlen… er oder sie«, sagte Nancy. Sie reichte Dhar den halben Stift,
und dieser las die bruchstückhafte Gravur.
    »›Made in‹ wo denn?«
fragte Dhar.
    »India«, sagte Nancy. »Rahul muß die Kappe gestohlen haben.«
    »Wer sollte denn
die Kappe eines Kugelschreibers haben wollen?« fragte Farrokh Detective Patel.
    »Ein Schriftsteller
sicher nicht«, entgegnete Dhar und reichte den halben Stift an Dr. Daruwalla weiter.
    »Er ist aus echtem
Silber«, bemerkte der Doktor.
    »Er gehört poliert«,
sagte Nancy. Der Kommissar schaute beiseite; er wußte, daß seine Frau ihn erst letzte
Woche poliert hatte. Dr. Daruwalla konnte kein Anzeichen dafür entdecken, daß das
Silber matt oder schwarz angelaufen war; alles glänzte, sogar die Aufschrift. Als
er Nancy den halben Stift zurückgab, steckte sie ihn nicht wieder in die Tasche,
sondern legte ihn neben ihr Messer und den Löffel – er glänzte heller als das Besteck.
»Ich nehme eine alte Zahnbürste, um die Schrift zu polieren«, sagte sie. Sogar Dhar
wandte den Blick von ihr ab; daß er ihr nicht in die Augen sehen konnte, gab ihr
etwas Selbstvertrauen. »Haben Sie sich im richtigen Leben jemals bestechen lassen?«
fragte Nancy den Schauspieler. Sie sah das höhnische Lächeln, nach dem sie

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