Zirkuskind
[676] Taille nicht
zu dem sonnenverbrannten Gesicht. Sie mußte mit Teetassen auf den Augen in der Sonne
gelegen haben, dachte Mr. Sethna, den jedweder Hinweis auf Frauen, die auf dem Rücken
lagen, irritierte.
Was den voyeuristisch
veranlagten Dr. Daruwalla anging, so wanderten seine Augen wiederholt zu Nancys
pelzigem Nabel. Seit sie mit ihrem Stuhl ganz nah an den Tisch im Ladies’ Garden
herangerückt war, wurde der Doktor unruhig, weil er dieses Wunder nicht mehr betrachten
konnte. Farrokh ertappte sich dabei, daß er statt dessen Seitenblicke auf Nancys
Waschbäraugen warf. Damit machte er Nancy so nervös, daß sie ihre Sonnenbrille aus
der Tasche holte und aufsetzte. Sie sah aus, als versuchte sie sich auf einen Auftritt
zu konzentrieren.
Inspector Dhar wußte,
wie er mit Sonnenbrillen umzugehen hatte. Er starrte einfach mit zufriedener Miene
hinein, woraus Nancy folgerte, daß ihre Brille kein Hindernis für seinen Scharfblick
darstellte und er ihre Augen trotzdem deutlich sehen konnte. Dhar wußte, daß sie
daraufhin bald die Sonnenbrille wieder abnehmen würde.
Phantastisch, dachte
Dr. Daruwalla, sie spielen alle beide Theater!
Mr. Sethna fand
die ganze Runde abstoßend. Schlechte Manieren, wie Teenager. Keiner von ihnen hatte
auch nur einen Blick auf die Speisekarte geworfen, keiner hatte einem Kellner auch
nur mit der Augenbraue bedeutet, daß man vielleicht einen Aperitif wünschte, und
nicht einmal die Unterhaltung kam richtig in Gang! Darüber hinaus war Mr. Sethna
ausgesprochen entrüstet über die augenfällige Erklärung, warum Detective Patel so
gut Englisch sprach: Die Frau des Polizeibeamten war eine schmuddelige Amerikanerin!
Überflüssig zu erwähnen, daß Mr. Sethna solche »Mischehen« zutiefst mißbilligte.
Und nicht weniger empörend fand der alte Butler, daß Inspector Dhar die Unverfrorenheit
besaß, sich so bald nach der Warnung im Mund des [677] verstorbenen Mr. Lal im Duckworth
Club blicken zu lassen und damit andere Duckworthianer rücksichtslos zu gefährden.
Aus der Tatsache, daß Mr. Sethna durch seine erbarmungslosen, heimlichen Lauschangriffe
an diese Information gelangt war, schloß er keineswegs, er könnte möglicherweise
nicht die ganze Geschichte kennen. Für einen Mann mit Mr. Sethnas Bereitschaft,
alles und jedes zu mißbilligen, genügte ein Häppchen Information, um sich eine umfassende
Meinung zu bilden.
Aber natürlich war
Mr. Sethna noch aus einem anderen Grund entrüstet über Inspector Dhar. Als Parse
und praktizierender Anhänger der zoroastrischen Lehre hatte der alte Butler auf
die Plakate für die jüngste Inspector-Dhar-Absurdität so reagiert, wie vorauszusehen
war. Seit seiner Zeit im Ripon Club und seiner berühmten Entscheidung, dem Mann
mit der Perücke heißen Tee über den Kopf zu gießen, hatte Mr. Sethna keinen so gerechten
Zorn mehr empfunden. Nachdem er auf dem Heimweg vom Duckworth Club das Werk der
Plakatkleber gesehen hatte, war er überzeugt, daß die Ankündigung von Inspector Dhar
und die Türme des Schweigens schuld an seinen außergewöhnlich unheimlichen Träumen war.
Er hatte eine Vision
von einer gespenstisch weißen Statue der Königin Victoria gehabt, ähnlich der, die
man vom Victoria Terminus entfernt hatte, nur daß sie in seinem Traum schwebte.
Königin Victoria erhob sich etwa dreißig Zentimeter über den Boden von Mr. Sethnas
geliebtem Feuertempel, so daß alle gläubigen Parsen zum Ausgang stürzten. Hätte
Mr. Sethna nicht das blasphemische Kinoplakat gesehen, hätte er bestimmt nie einen
derart blasphemischen Traum gehabt. Er war prompt aufgewacht und hatte seine Gebetskappe
aufgesetzt, die ihm jedoch heruntergefallen war, als ihn der nächste Traum heimsuchte.
Er fuhr in dem Leichenwagen der Parsen zu den Türmen des Schweigens. Obwohl sein
Körper bereits tot war, nahm er den Geruch der rituellen Handlungen wahr, die seinen
eigenen Tod begleiteten – [678] er roch das brennende Sandelholz. Plötzlich brachte
ihn der Gestank der Verwesung, der den Schnäbeln und Krallen der Geier anhaftete,
zum Würgen; wieder wachte er auf. Seine Gebetskappe lag auf dem Boden, und da er
sie irrtümlich für eine abwartende, bucklige Krähe hielt, versuchte er den eingebildeten
Vogel mit übertriebenen Gesten zu verscheuchen.
Dr. Daruwalla sah
nur einmal zu Mr. Sethna hinüber. Aus dessen vernichtendem Blick schloß er, daß
möglicherweise ein neuer Zwischenfall mit heißem Tee im Anzug war. Mr. Sethna interpretierte
den
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