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Zirkuskind

Zirkuskind

Titel: Zirkuskind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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verfielen sie in Hindi und Marathi. Der Doktor sprach bestenfalls
ein stockendes Hindi – und fast überhaupt kein Marathi.
    »Es ist wichtig,
daß ihr euch wie Bruder und Schwester benehmt«, erinnerte Farrokh die zwei, aber
der Krüppel war ebenso schlecht gelaunt wie Madhu.
    »Wenn sie meine
Schwester wäre, würde ich sie verprügeln«, sagte Ganesh.
    »Nicht mit dem Fuß,
garantiert nicht«, erwiderte Madhu.
    »Aber, aber«, sagte
Dr. Daruwalla. Er hatte beschlossen, englisch zu sprechen, weil er ziemlich sicher
war, daß sowohl Madhu als auch Ganesh ihn verstanden, und davon ausging, daß er
auf englisch mehr Autorität ausstrahlte. »Heute ist euer Glückstag«, erklärte er
ihnen.
    »Was ist ein Glückstag«,
fragte Madhu den Doktor.
    »Das bedeutet gar
nichts«, sagte Ganesh.
    »Das ist nur so
ein Ausdruck«, gab Dr. Daruwalla zu, »aber er bedeutet schon etwas. Er bedeutet,
daß ihr heute das Glück habt, Bombay zu verlassen und zum Zirkus zu gehen.«
    »Dann meinen Sie
also, daß wir Glück haben, nicht der Tag«, entgegnete
der elefantenfüßige Junge.
    »Es ist zu früh,
um zu entscheiden, ob wir Glück haben«, sagte die Kindprostituierte.
    [705]  In dieser Stimmung
trafen sie in St. Ignatius ein, wo der eigensinnige Missionar bereits auf sie wartete.
Strahlend vor grenzenlosem Optimismus, kletterte Martin Mills auf den Rücksitz des
Ambassador. »Heute ist euer Glückstag!« verkündete der Glaubenseiferer den Kindern.
    »Das haben wir schon
durchgekaut«, sagte Daruwalla. Es war erst 7 Uhr 30.
    Fehl am Platz im Taj Mahal
    Um 8 Uhr
30 kamen sie in der Abflughalle für Inlandsflüge auf dem Flughafen Santa Cruz an,
wo sie erfuhren, daß ihr Flug nach Rajkot Verspätung haben und erst gegen Abend
abfliegen würde.
    »Typisch Indian
Airlines!« rief Dr. Daruwalla empört.
    »Wenigstens geben
sie es zu«, meinte Vinod.
    Dr. Daruwalla war
der Meinung, daß sie anderswo bequemer warten konnten als in der Abflughalle in
Santa Cruz. Doch bevor er alle dazu bringen konnte, wieder in Vinods Taxi zu steigen,
hatte sich Martin Mills abgeseilt und sich eine Morgenzeitung gekauft. Auf dem ganzen
Rückweg nach Bombay am Samstagmorgen, mitten im Berufsverkehr, servierte ihnen der
Missionar immer wieder Kostproben aus der ›Times of India‹. Es würde halb elf werden,
bis sie im Taj Mahal ankamen, wo sie, wie Dr. Daruwalla eigenmächtig und eigenwillig
beschlossen hatte, den Abflug nach Rajkot in der Hotelhalle abwarten würden.
    »Hört euch das an«,
begann Martin. »›Zwei Brüder erstochen… die Polizei hat einen Angreifer festgenommen,
während zwei weitere Mittäter überstürzt auf einem Roller flüchtig sind.‹ Eine reichlich
unorthodoxe Verwendung des Präsens«, bemerkte der Englischlehrer. »Von ›flüchtig‹
ganz zu schweigen.«
    [706]  »›Flüchtig‹ ist
hierzulande ein sehr beliebtes Wort«, erklärte Farrokh.
    »Manchmal ist es
die Polizei, die flüchtig ist«, ergänzte Ganesh.
    »Was hat er gesagt?«
fragte der Missionar.
    »Wenn ein Verbrechen
geschieht, ist häufig die Polizei flüchtig«, antwortete Farrokh. »Es ist ihnen peinlich,
daß sie das Verbrechen nicht verhindern oder den Täter nicht fassen konnten, also
laufen sie weg.« Dabei dachte Dr. Daruwalla, daß dieses Verhaltensmuster auf Detective
Patel nicht zutraf. Nach Aussage von John D. wollte der Kommissar den Tag in dessen
Suite im Oberoi Towers verbringen, um mit ihm zu probieren, wie er sich am besten
an Rahul heranmachte. Farrokh fühlte sich gekränkt, daß man ihn weder aufgefordert
hatte dabeizusein, noch angeboten hatte, die Probe zu verschieben, bis er vom Zirkus
zurückkam. Schließlich mußte er sich entsprechende Dialoge einfallen lassen und
zu Papier bringen, und obwohl Dialoge nichts mit seinem eigentlichen Beruf zu tun
hatten, fielen sie zumindest in sein heimliches Metier.
    »Ich möchte mich
vergewissern, daß ich das richtig verstanden habe«, sagte Martin Mills. »Manchmal,
wenn ein Verbrechen geschieht, sind sowohl die Verbrecher als auch die Polizei ›flüchtig‹.«
    »Aber gewiß doch«,
antwortete Dr. Daruwalla. Es war ihm nicht bewußt, daß er diesen Ausdruck von Detective
Patel übernommen hatte, weil er im Augenblick von der stolzen Erkenntnis abgelenkt
wurde, daß er, schlau wie er war, die ›Times of India‹ bereits ähnlich respektlos
in sein Drehbuch eingebaut hatte. (Der fiktive Mr. Martin las den fiktiven Kindern
auch immer irgendwelche albernen Meldungen vor.)
    Das Leben

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