Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Zirkuskind

Zirkuskind

Titel: Zirkuskind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
Vom Netzwerk:
imitiert
die Kunst, dachte Farrokh, als Martin Mills verkündete: »Hier sagt jemand wohltuend
unverblümt seine Meinung.« Martin hatte die Rubrik »Leserbriefe« der ›Times of India‹ [707]  entdeckt und las aus einem Brief vor. »Hört euch das an«, sagte der Missionar.
»›Unsere Lebensweise wird sich ändern müssen. Das sollte damit anfangen, daß man
spätestens in der Grundschule den Jungen beibringt, nicht im Freien zu urinieren.‹«
    »Mit anderen Worten:
Biegt sie zurecht, solange sie jung sind«, sagte Dr. Daruwalla.
    Dann sagte Ganesh
etwas, worüber Madhu lachen mußte.
    »Was hat er gesagt?«
fragte Martin Farrokh.
    »Er hat gesagt,
daß man überhaupt nur im Freien pinkeln kann«, antwortete Dr. Daruwalla.
    Dann sagte Madhu
etwas, was Ganesh eindeutig mißfiel.
    »Was hat sie gesagt?«
fragte der Missionar.
    »Sie hat gesagt,
sie pinkelt lieber in parkenden Autos… vor allem nachts«, erklärte ihm der Doktor.
    Als sie im Taj Mahal
ankamen, war Madhus Mund voller Betelsaft; blutroter Speichel floß aus ihren Mundwinkeln.
    »Im Taj Mahal wird
kein Betel gekaut«, sagte der Doktor. Das Mädchen spuckte das schauerliche Zeug
auf den Vorderreifen von Vinods Taxi. Angewidert schauten der Zwerg und der Sikh-Portier
zu, wie sich der Fleck auf der kreisförmigen Ausfahrt ausbreitete. »Im Zirkus darfst
du sicher kein paan kauen«, erinnerte der Doktor Madhu.
    »Wir sind noch nicht
im Zirkus«, sagte die mißmutige kleine Hure.
    Die kreisrunde Auffahrt
war mit Taxis und einer Phalanx von Luxuskarossen verstopft. Der elefantenfüßige
Junge sagte etwas zu Madhu, was diese zum Lachen brachte.
    »Was hat er gesagt?«
fragte der Missionar Dr. Daruwalla.
    »Er hat gesagt,
da stehen viele Autos zum Reinpinkeln«, antwortete der Doktor. Dann bekam er mit,
wie Madhu Ganesh erzählte, daß sie einmal in so einem teuren Auto gefahren sei.
Es hörte sich nicht nach reiner Angeberei an, aber Farrokh widerstand der Versuchung,
dem Jesuiten dieses Detail zu übersetzen. [708]  So sehr Dr. Daruwalla es genoß, Martin
Mills zu schockieren, wäre es ihm lüstern erschienen, darüber zu spekulieren, was
eine Kindprostituierte in einem so teuren Wagen getan haben mochte, selbst wenn
sie nur hineingepinkelt hätte.
    »Was hat Madhu gesagt?«
fragte Martin Farrokh.
    »Sie hat gesagt,
sie würde lieber die Damentoilette benutzen«, log Dr. Daruwalla.
    »Gut für dich!«
sagte Martin zu dem Mädchen. Als sie den Mund leicht öffnete, um ihn anzulächeln,
waren ihre Zähne vom paan leuchtend rot verschmiert; es sah aus, als würde ihr Zahnfleisch bluten. Der Doktor
hoffte, daß Madhus obszönes Lächeln nur Einbildung war. Als sie die Hotelhalle betraten,
war Dr. Daruwalla keineswegs glücklich über den Blick, mit dem der Portier Madhu
musterte. Der Sikh schien zu wissen, daß sie nicht zu der Sorte Mädchen gehörte,
die Zugang zum Taj Mahal hatten. Obwohl Deepa Vinod gesagt hatte, wie er sie anziehen
sollte, sah Madhu nicht wie ein Kind aus.
    Ganesh begann bereits
zu zittern, weil er keine Klimaanlage gewöhnt war; der Krüppel wirkte verängstigt,
als befürchte er, der Sikh an der Tür könnte ihn hinauswerfen. Das Taj Mahal ist
nicht der richtige Ort für einen Betteljungen und eine Kindprostituierte, dachte
Dr. Daruwalla. Es war ein Fehler gewesen, sie hierherzubringen.
    »Wir trinken nur
einen Tee«, versicherte Farrokh den Kindern. »Und wir erkundigen uns in regelmäßigen
Abständen nach dem Flug«, erklärte er dem Missionar. Wie Madhu und Ganesh war Martin
sichtlich überwältigt von der üppigen Ausstattung der Lobby. Während der paar Minuten,
die Dr. Daruwalla benötigte, um mit dem Assistenten des Hotelmanagers zu vereinbaren,
daß man ausnahmsweise ein Auge zudrücken würde, hatte irgendein kleiner Hotelangestellter
den Jesuiten und die Kinder bereits aufgefordert, das Hotel zu verlassen. Nachdem
das Mißverständnis aufgeklärt war, erschien Vinod mit der [709]  Papiertüte, in der
sich das Hawaiihemd befand, in der Halle. Gelassen und kommentarlos sah der Zwerg
mit an, wie der vermeintliche Inspector Dhar seine Wahnvorstellung ausagierte –
nämlich daß er ein jesuitischer Missionar war, der sich auf das Priesteramt vorbereitete.
Dr. Daruwalla hatte Martin Mills das Hawaiihemd geben wollen, hatte die Tüte aber
in Vinods Taxi vergessen. (Nicht jeder dahergelaufene Taxifahrer wäre so einfach
in die Halle des Taj Mahal gelassen worden, aber Vinod war hier als Inspector Dhars
Chauffeur

Weitere Kostenlose Bücher