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Zirkuskind

Zirkuskind

Titel: Zirkuskind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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weiterbimmeln.
»Das ist der falsche Mann, du Idiot!« schrie der Doktor. Aber der Junge war kein
Idiot; ohne ein Trinkgeld würde er sich nicht von der Stelle rühren. Sobald er es
bekommen hatte, schlenderte er lässig und noch immer bimmelnd davon. Farrokh kochte
vor Wut.
    »Gehen wir«, sagte
er unvermittelt.
    »Wohin denn?« fragte
Madhu.
    »In den Zirkus?«
fragte Ganesh.
    »Nein, noch nicht,
wir gehen nur woanders hin«, teilte ihnen der Doktor mit.
    »Ist es hier denn
nicht angenehm?« fragte der Missionar.
    »Zu angenehm«, erwiderte
Dr. Daruwalla.
    »Eigentlich wäre
eine Rundfahrt durch Bombay ganz [712]  schön… für mich«, meinte der Scholastiker. »Mir
ist zwar klar, daß Sie und die Kinder die Stadt kennen, aber vielleicht gibt es
etwas, was Sie mir zeigen mögen. Einen öffentlichen Park vielleicht. Marktplätze
mag ich auch gern.«
    Dhars Zwillingsbruder
durch eine öffentliche Anlage zu schleifen war alles andere als eine grandiose Idee.
Farrokh überlegte, daß er die drei zum Lunch in den Duckworth Club bringen könnte.
Er war sicher gewesen, daß ihnen Dhar im Taj Mahal nicht über den Weg laufen würde,
weil er mit Detective Patel im Oberoi Towers probierte; folglich würde er ihnen
im Club auch kaum über den Weg laufen. Daß eine winzige Möglichkeit bestand, Rahul
zu begegnen, störte Dr. Daruwalla nicht weiter. Er würde nichts unternehmen, um
das Mißtrauen der zweiten Mrs. Dogar zu wecken. Aber es war noch zu früh, um sich
zum Lunch in den Duckworth Club zu begeben, und außerdem mußte er vorher anrufen
und einen Tisch bestellen, wenn er nicht riskieren wollte, daß Mr. Sethna ihn äußerst
kühl empfing.
    Zu laut für eine Bibliothek
    Als sie
wieder im Ambassador saßen, wies der Doktor Vinod an, sie in die Bibliothek der
Asiatischen Gesellschaft am Horniman Circle zu fahren. Das war eine der wenigen
Oasen in dieser von Menschen wimmelnden Stadt – ähnlich wie der Duckworth Club und
St. Ignatius –, wo Dhars Zwillingsbruder, wie der Doktor hoffte, in Sicherheit wäre.
Dr. Daruwalla war Mitglied bei der Bibliothek der Asiatischen Gesellschaft, in deren
kühlen Leseräumen mit den hohen Decken er schon manche Stunde gedöst hatte. Die
überlebensgroßen Statuen der Schriftsteller-Genies freilich hatten kaum von dem
Drehbuchautor Notiz genommen, wenn er leise und bescheiden die imposante Freitreppe
hinauf- oder hinunterging.
    [713]  »Ich bringe Sie
in die großartigste Bibliothek von ganz Bombay«, verkündete Dr. Daruwalla Martin
Mills. »Fast eine Million Bücher! Und genausoviele Büchernarren!«
    Den Zwerg beauftragte
der Doktor, die Kinder unterdessen »einfach durch die Gegend zu fahren«. Er schärfte
Vinod ein, die beiden ja nicht aussteigen zu lassen. Es machte ihnen ohnehin Spaß,
im Ambassador herumzukutschieren – anonym in der Stadt spazierenzufahren, heimlich
die draußen vorbeiziehende Welt anzustarren. Für Madhu und Ganesh war Taxifahren
etwas völlig Neues. Sie starrten alle Leute an, als wären sie selbst unsichtbar
oder als wäre der primitive Ambassador des Zwergs mit Spionglasfenstern ausgerüstet.
Dr. Daruwalla fragte sich, ob das daran lag, daß sie sich bei Vinod sicher fühlten;
sie waren noch nie in Sicherheit gewesen.
    Als die Kinder abfuhren,
hatte der Doktor nur kurz ihre Gesichter gesehen. In dem Augenblick wirkten sie
verängstigt – aber wovor hatten sie Angst? Bestimmt nicht davor, mit dem Zwerg allein
gelassen zu werden; vor Vinod hatten sie keine Angst. Nein. Auf ihren Gesichtern
hatte Farrokh eine viel gravierendere Befürchtung gelesen – daß der Zirkus, zu dem
sie angeblich gebracht werden sollten, nur ein Traum war, daß sie nie aus Bombay
hinauskommen würden.
    Flucht
aus Maharashtra: Plötzlich erschien ihm das ein besserer Titel als Limo-Roulette . Aber vielleicht doch nicht, dachte
Farrokh.
    »Ich mag bibliophile
Menschen«, sagte Martin Mills gerade, als sie die Treppe hinaufgingen. Seine Stimme
hallte. Der Scholastiker redete viel zu laut für eine Bibliothek.
    »Hier gibt es mehr
als achthunderttausend Bücher«, flüsterte Farrokh. »Darunter zehntausend Handschriften!«
    »Ich bin froh, daß
wir einen Augenblick allein sind«, sagte der Missionar mit einer Stimme, die die
schmiedeeisernen Gitter der Loggia vibrieren ließ.
    [714]  »Schsch!« zischte
der Doktor. Die marmornen Statuen sahen stirnrunzelnd auf sie herab. Die achtzig
oder neunzig Bibliotheksangestellten hatten diese stirnrunzelnden Mienen vor langer
Zeit

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