Zirkuskind
bekannt.)
Als Farrokh Martin
Mills das Hawaiihemd überreichte, wurde der Missionar ganz aufgeregt.
»Ach, das ist ja
wunderschön!« rief er aus. »Ich hatte mal genau dasselbe!«
»Um ehrlich zu sein,
das ist Ihres«, gab Farrokh zu.
»Nein, nein!« flüsterte
Martin. »Mein Hemd wurde mir gestohlen. Eine von diesen Prostituierten hat es an
sich genommen.«
»Sie hat es zurückgegeben«,
flüsterte Dr. Daruwalla.
»Wirklich? Na so
was, das ist erstaunlich!« sagte Martin Mills. »Hat sie Reue gezeigt?«
»Er, nicht sie«,
sagte Dr. Daruwalla. »Nein, er hat keine Reue gezeigt, glaube ich.«
»Was meinen Sie
damit? Er…?« fragte der Missionar.
»Ich meine damit,
daß diese Prostituierte ein Er war, keine Sie«, erklärte der Doktor Martin Mills.
»Das war ein kastrierter Transvestit… das waren lauter Männer. Na ja, in gewisser
Weise.«
»Was meinen Sie
mit ›in gewisser Weise‹…?« wollte der Missionar wissen.
»Man nennt diese
Leute hijras . Sie haben sich entmannen lassen«,
flüsterte der Doktor. Als typischer Chirurg beschrieb er die Prozedur gern bis ins
kleinste Detail – das Verätzen der Wunde mit heißem Öl eingeschlossen und ohne jenen
Teil der [710] weiblichen Anatomie zu vergessen, an den die faltige Narbe erinnerte,
nachdem sie abgeheilt war.
Als Martin Mills
aus der Herrentoilette zurückkam, trug er das Hawaiihemd, dessen leuchtende Farben
einen scharfen Kontrast zu seiner Blässe bildeten. Farrokh vermutete, daß die Tüte
jetzt das Hemd enthielt, das der arme Kerl zuvor angehabt und vollgespuckt hatte.
»Nur gut, daß wir
die Kinder aus dieser Stadt wegbringen«, erklärte der eifrige Missionar feierlich,
während der Doktor wieder einmal fröhlich registrierte, daß das Leben die Kunst
imitierte. Wenn der dumme Kerl jetzt bloß den Mund halten würde, so daß er die letzten
Seiten seines Drehbuchs durchlesen könnte!
Dr. Daruwalla wußte,
daß sie nicht den ganzen Tag im Taj Mahal zubringen konnten. Die Kinder wurden bereits
unruhig. Madhu brachte es fertig, sich an irgendwelche Hotelgäste heranzumachen,
und der Elefantenjunge würde wahrscheinlich etwas stibitzen, zum Beispiel von dem
billigen Silberschmuck aus dem Andenkenladen. Dr. Daruwalla wagte nicht, die Kinder
auch nur einen Augenblick mit Martin Mills allein zu lassen, um Ranjit anzurufen
und zu hören, ob irgendwelche Nachrichten für ihn eingegangen waren; doch rechnete
er ohnehin nicht damit, denn am Samstag gab es erfahrungsgemäß nur Notfälle, und
an diesem Wochenende hatte der Doktor keinen Dienst.
Das Mädchen machte
Farrokh noch ganz kribbelig. Madhu saß nicht nur nachlässig in ihrem Clubsessel,
sie lümmelte sich regelrecht hinein. Ihr Kleid war fast bis zu den Hüften hochgerutscht,
und sie starrte jedem Mann, der vorbeiging, ins Gesicht. Das trug garantiert nicht
dazu bei, daß sie wie ein Kind aussah. Dazu kam, daß sich Madhu offenbar parfümiert
hatte. Der Geruch erinnerte Dr. Daruwalla ein bißchen an Deepa (zweifellos hatte
Vinod dem Mädchen erlaubt, Deepas Sachen zu benützen, und das Parfum, das die Frau
des Zwergs verwendete, hatte ihr wohl gefallen). Außerdem fand der Doktor, daß die
Klimaanlage [711] des Taj Mahal zu angenehm war – genauer gesagt, sie war zu kühl.
Im Staatlichen Gästehaus in Junagadh, wo Dr. Daruwalla sie alle für die Nacht einquartiert
hatte, würde es keine Klimaanlage geben – nur Deckenventilatoren –, und im Zirkus,
wo die Kinder die darauffolgende Nacht (und alle weiteren Nächte) verbringen würden,
gab es nur Zelte, keine Deckenventilatoren, und die Moskitonetze waren wahrscheinlich
reparaturbedürftig. Dr. Daruwalla mußte zugeben, daß es für die Kinder mit jeder
Sekunde, die sie länger in der Halle des Taj Mahal blieben, schwieriger werden würde,
sich an den Great Blue Nile zu gewöhnen.
Dann passierte etwas
höchst Ärgerliches. Ein Laufbursche war auf der Suche nach Inspector Dhar. Die Methode,
mit der im Taj Mahal jemand ausgerufen wurde, war simpel; manche Leute fanden sie
drollig. Der Bursche marschierte mit einer Schiefertafel, an der ein paar Messingglöckchen
baumelten, durch die Halle und beehrte alle mit seinem penetranten Gebimmel. Der
Laufbursche, der Inspector Dhar erkannt zu haben glaubte, blieb vor Martin Mills
stehen und schüttelte die Tafel mit den hartnäckigen Glöckchen, auf der mit Kreide MR.
DHAR stand.
»Das ist der falsche
Mann«, erklärte Dr. Daruwalla dem Burschen, doch der ließ seine Glöckchen
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