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Zirkuskind

Zirkuskind

Titel: Zirkuskind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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übernommen, und Dr. Daruwalla sah voraus, daß der Scholastiker mit seiner dröhnenden
Stimme bald von einem dieser in Pantoffeln umherschlurfenden, zänkischen Burschen,
die durch die verstaubten Winkel der Bibliothek der AsiatischenGesellschaft huschten,
zurechtgewiesen würde. Um einen Auftritt zu vermeiden, schob der Doktor Martin in
einen leerenLeseraum.
    Der Deckenventilator
hatte die Schnur erfaßt, mit der man ihn an- und ausschaltete, so daß nur das leise
Klatschen der Schnur gegen die Ventilatorblätter die Stille der abgestandenen Luft
durchbrach. Die mit Schnitzereien verzierten Regalbretter hingen unter dem Gewicht
der staubigen Bücher durch; Stapel numerierter Kartons mit Manuskripten lehnten
an den Bücherschränken; ledergepolsterte Stühle mit breiten Sitzflächen standen
um einen ovalen Tisch, auf dem überall Bleistifte und Notizblöcke lagen. Nur einer
dieser Stühle hatte Rollen; er stand schräg, da seine vier Beine nur drei Laufrollen
hatten – die fehlende Rolle lag, wie ein Briefbeschwerer, auf einem Notizblock.
    Nach dem typisch
amerikanischen Motto »Do it yourself« machte sich der Jesuit daran, den kaputten
Stuhl zu reparieren. Es standen noch ein halbes Dutzend Stühle herum, auf die er
und der Doktor sich hätten setzen können, und Dr. Daruwalla vermutete, daß der Stuhl
mit der abgefallenen Laufrolle wahrscheinlich die letzten zehn oder zwanzig Jahre
unbehelligt in diesem unbrauchbaren Zustand verbracht hatte. Wer weiß, vielleicht
hatte er bei den Feierlichkeiten zur Unabhängigkeit Schaden genommen – vor mehr
als vierzig Jahren! Und da kam dieser Narr daher und setzte es sich in den Kopf,
ihn zu reparieren. Gibt es denn keinen Ort in dieser Stadt, an den ich diesen [715]  Blödmann
mitnehmen kann? fragte sich Farrokh. Bevor er Martin Mills davon abhalten konnte,
hatte dieser den Stuhl mit einem lauten Knall umgekehrt auf den ovalen Tisch gestellt.
    »Kommen Sie schon,
Sie müssen mir alles erzählen«, sagte der Missionar. »Ich kann es kaum erwarten,
die Geschichte Ihrer Bekehrung zu hören. Natürlich hat mir der Pater Rektor davon
berichtet.«
    Natürlich, dachte
Dr. Daruwalla. Pater Julian hatte den Doktor zweifellos als irregeleiteten Konvertiten
hingestellt. Da zog der Missionar zu Farrokhs Überraschung plötzlich ein Messer
aus der Tasche! Es war eines dieser Schweizer Armeemesser, die Dhar so gern mochte,
ein kompakter Mini-Werkzeugkasten. Mit einer Ahle bohrte der Jesuit ein Loch in
das Stuhlbein. Das morsche Holz bröselte auf den Tisch.
    »Man braucht nur
ein neues Loch für die Schraube zu bohren«, rief Martin. »Ich kann es einfach nicht
glauben, daß niemand imstande war, den Stuhl zu richten.«
    »Vermutlich haben
sich die Leute einfach auf die anderen Stühle gesetzt«, meinte Dr. Daruwalla. Während
der Scholastiker mit dem Stuhlbein rang, schnappte das häßliche kleine Werkzeug
an seinem Messer plötzlich zu und knipste Martin fein säuberlich ein Stück vom Zeigefinger
ab. Der Jesuit blutete heftig auf einen Notizblock.
    »Na sehen Sie, jetzt
haben Sie sich geschnitten…«, begann Dr. Daruwalla.
    »Das hat nichts
zu bedeuten«, sagte der Scholastiker, doch es war offensichtlich, daß der Stuhl
den Mann Gottes allmählich den letzten Nerv kostete. »Ich möchte Ihre Geschichte
hören. Na los, den Anfang kenne ich schon… Sie waren in Goa, nicht wahr? Sie haben
sich gerade die geweihten Überreste unseres heiligen Franz Xaver angesehen… das,
was noch von ihm da ist. Und beim Einschlafen haben Sie an diese Wallfahrerin gedacht,
die ihm die Zehe abgebissen hat.«
    [716]  »Beim Einschlafen
habe ich an gar nichts gedacht!« protestierte Farrokh laut.
    »Schsch! Wir sind
hier in einer Bibliothek«, erinnerte ihn der Missionar.
    »Ich weiß, ich weiß!«
rief der Doktor – zu laut, denn es stellte sich heraus, daß sie doch nicht allein
waren. Ein alter Mann, der auf einem Stuhl in der Ecke gedöst hatte und den sie
zunächst nicht bemerkt hatten, tauchte jetzt hinter einem Stapel Manuskripte auf.
Sein Stuhl hatte ebenfalls Räder, und jetzt rollte er auf sie zu. Der wenig liebenswürdige
Bibliotheksmitbenutzer, der aus dem tiefen Schlummer, in den ihn seine Lektüre gestürzt
hatte, geweckt worden war, trug ein Nehru-Jackett, das von der abfärbenden Druckerschwärze
grau geworden war (die Hände ebenso).
    »Schsch!« machte
der alte Leser. Dann rollte er wieder in seine Ecke zurück.
    »Vielleicht sollten
wir uns einen anderen Ort suchen, um über

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