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Zirkuskind

Zirkuskind

Titel: Zirkuskind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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meine Bekehrung zu reden«, flüsterte Farrokh
Martin Mills zu.
    »Ich werde diesen
Stuhl reparieren«, erwiderte der Jesuit. Damit rammte er, während sein Blut auf
den Stuhl, den Tisch und den Notizblock tropfte, die widerspenstige Rolle in das
in die Luft ragende Stuhlbein. Mit einem zweiten, gefährlich aussehenden Werkzeug,
einem kurzen Schraubenzieher, befestigte er die Rolle mühsam am Stuhl. »Also… Sie
sind eingeschlafen… Sie dachten an absolut gar nichts, jedenfalls behaupten Sie
das. Und was war dann?«
    »Ich habe geträumt,
ich sei der Leichnam des heiligen Franz Xaver…«, begann Dr. Daruwalla.
    »Körperträume, ganz
alltäglich«, flüsterte der Scholastiker.
    »Schsch!« zischte
der alte Mann im Nehru-Jackett aus seiner Ecke.
    »Ich habe geträumt,
daß mir die verrückte Pilgerin die Zehe abbeißt!« zischelte Farrokh.
    »Und das haben Sie
gespürt?« fragte Martin.
    [717]  »Natürlich habe
ich es gespürt!« zischte der Doktor.
    »Aber ein Leichnam
spürt nichts, oder?« meinte der Scholastiker. »Also gut… Sie haben den Biß gespürt,
und weiter?«
    »Als ich aufwachte,
pochte meine Zehe. Ich konnte mit dem Fuß nicht auftreten, und gehen erst recht
nicht! Und man hat Bißabdrücke gesehen. Die Haut war nicht verletzt, wohlgemerkt,
aber da waren richtige Abdrücke von Zähnen! Diese Abdrücke waren echt! Der Biß war
echt!« sagte Farrokh mit Nachdruck.
    »Natürlich war er
echt«, sagte der Missionar. »Irgendwas Echtes hat Sie gebissen. Was mag das gewesen
sein?«
    »Ich befand mich
auf einem Balkon, sozusagen in der Luft!« flüsterte Farrokh heiser.
    »Jetzt übertreiben
Sie mal nicht«, flüsterte der Jesuit. »Wollen Sie mir im Ernst weismachen, daß dieser
Balkon vollkommen unzugänglich war?«
    »Die Türen waren
geschlossen… meine Frau und die Kinder haben geschlafen…«, setzte Farrokh an.
    »Aha, die Kinder!«
rief Martin Mills aus. »Wie alt waren die denn damals?«
    »Ich bin nicht von
meinen eigenen Kindern gebissen worden!« zischelte Dr. Daruwalla.
    »Bei Kindern kommt
das aber öfter vor, manchmal beißen sie auch nur aus Jux«, entgegnete der Missionar.
»Ich habe gehört, daß Kinder regelrechte Beißphasen durchmachen, Zeiten, in denen
sie besonders gern beißen.«
    »Auch gut möglich,
daß meine Frau Hunger hatte«, sagte Farrokh sarkastisch.
    »Und es gab keine
Bäume rings um den Balkon?« fragte Martin Mills, der inzwischen über dem eigensinnigen
Stuhl nicht nur blutete, sondern auch schwitzte.
    »Ich merke schon«,
sagte Dr. Daruwalla. »Gleich kommen Sie mir mit Pater Julians Affentheorie. Beißwütige
Affen, die sich auf den Balkon schwingen, oder so was.«
    [718]  »Der springende
Punkt ist, daß Sie wirklich gebissen wurden, stimmt’s?« fragte ihn der Jesuit. »Wenn
es um Wunder geht, bringen die Leute alles durcheinander. Das Wunder war nicht,
daß Sie gebissen wurden. Das Wunder ist, daß Sie glauben! Ihr Glaube ist das Wunder.
Es spielt kaum eine Rolle, daß etwas… etwas ganz Alltägliches den Anstoß dazu gegeben
hat.«
    »Was mit meiner
Zehe passiert ist, war nicht alltäglich!« schrie der Doktor.
    Der alte Leser kam
auf seinem rollenden Stuhl aus der Ecke geschossen. »Schsch!« zischte er.
    »Wollen Sie hier
eigentlich lesen oder schlafen?« schrie der Doktor den alten Herrn an.
    »Kommen Sie… Sie
stören ihn. Er war zuerst da«, beschwichtigte Martin Mills Dr. Daruwalla. »Schauen
Sie«, sagte er dann zu dem erzürnten alten Mann wie zu einem Kind. »Sehen Sie diesen
Stuhl? Ich habe ihn repariert. Wollen Sie ihn ausprobieren?« Der Missionar stellte
den Stuhl auf seine vier Rollen und schob ihn hin und her. Der alte Mann beäugte
den Scholastiker voller Argwohn.
    »Er hat seinen eigenen
Stuhl, zum Kuckuck noch mal«, sagte Farrokh.
    »Kommen Sie, probieren
Sie ihn aus!« drängte der Missionar den alten Mann.
    »Ich muß unbedingt
telefonieren und einen Tisch für den Lunch reservieren. Und die Kinder sollten wir
auch nicht zu lange allein lassen; die langweilen sich bestimmt.« Doch zu seinem
Entsetzen sah der Doktor, daß Martin Mills zu dem Deckenventilator hinaufschaute.
Sein Handwerkerauge hatte die Schnur erspäht, die sich verfangen hatte.
    »Diese Schnur ist
ziemlich störend, wenn man lesen möchte«, meinte er und kletterte auf den ovalen
Tisch, der unter seinem Gewicht ächzte.
    »Sie werden den
Tisch noch kaputtmachen«, warnte ihn der Doktor.
    [719]  »Ich mache den
Tisch nicht kaputt. Ich will nur den Ventilator

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