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Zirkuskind

Zirkuskind

Titel: Zirkuskind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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richten«, entgegnete Martin Mills.
Langsam und unbeholfen erhob er sich von den Knien auf die Füße.
    »Das sehe ich. Sie
sind wohl völlig übergeschnappt!« rief Dr. Daruwalla.
    »Ach, kommen Sie,
Sie ärgern sich bloß über Ihr Wunder«, sagte der Missionar. »Ich will Ihnen Ihr
Wunder doch gar nicht wegnehmen. Ich möchte Sie nur dazu bringen, das eigentliche
Wunder zu sehen. Und das besteht schlicht darin, daß Sie glauben – nicht in dem
albernen Ereignis, das Sie dazu gebracht hat. Der Biß war nur ein Vehikel.«
    »Der Biß war das
Wunder«, schrie Dr. Daruwalla.
    »Nein, nein, da
irren Sie sich«, konnte Martin Mills gerade noch sagen, bevor der Tisch unter ihm
zusammenkrachte. Im Fallen griff er nach dem Ventilator, den er zum Glück verfehlte.
Am meisten verblüfft war der alte Herr im Nehru-Jackett. Als Martin Mills herunterfiel,
probierte er gerade vorsichtig den frisch reparierten Stuhl aus. Der einstürzende
Tisch und der Aufschrei des Missionars erschreckten ihn so, daß er sich heftig nach
hinten abstieß und das Stuhlbein mit dem frischgebohrten Loch seine Laufrolle wieder
ausspuckte. Während der alte Mann und der Jesuit auf dem Boden lagen, blieb es Dr.
Daruwalla überlassen, den empörten Bibliotheksangestellten zu beruhigen, der in
seinen Pantoffeln in den Leseraum geschlurft kam.
    »Wir wollten gerade
gehen«, erklärte Dr. Daruwalla dem Bibliothekar. »Es ist zu laut hier. Da kann man
sich ja auf gar nichts konzentrieren!«
    Schweißtriefend,
blutend und humpelnd folgte der Missionar unter den stirnrunzelnden Blicken der
Statuen dem Doktor die imposante Treppe hinunter. Um sich zu entspannen, summte
Dr. Daruwalla vor sich hin: »Das Leben imitiert die Kunst. Das Leben imitiert die
Kunst.«
    »Was sagen Sie da?«
fragte Martin Mills.
    [720]  »Schsch!« sagte der Doktor. »Das hier ist eine Bibliothek.«
    »Ärgern Sie sich
nicht über Ihr Wunder«, riet ihm der Jesuit.
    »Das ist lange her.
Ich glaube nicht, daß ich noch an irgend etwas glaube«, entgegnete Farrokh.
    »Sagen Sie das nicht!«
rief der Missionar.
    »Schsch!« flüsterte
Farrokh.
    »Ich weiß, ich weiß«,
sagte Martin Mills. »Das hier ist eine Bibliothek.«
    Es war fast Mittag.
Draußen, im gleißenden Sonnenlicht, blickten sie die Straße entlang, ohne das Taxi
zu sehen, das am Randstein parkte. Vinod mußte ihnen entgegengehen und sie wie zwei
Blinde zum Auto führen. Im Ambassador saßen die Kinder und weinten. Sie waren überzeugt,
daß der Zirkus ein Märchen war oder ein übler Scherz.
    »Nein, nein, es
gibt ihn wirklich«, versicherte ihnen Dr. Daruwalla. »Wir fahren hin, ganz bestimmt,
nur hat das Flugzeug eben Verspätung.« Aber was wußten Madhu oder Ganesh schon von
Flugzeugen? Vermutlich waren sie noch nie geflogen. Neue Schrecken erwarteten sie.
Ihre Augen weiteten sich angstvoll, als sie sahen, daß Martin Mills blutete. Hatte
es eine Prügelei gegeben? »Es war nur ein Stuhl«, sagte Farrokh. Er ärgerte sich,
weil er in dem Durcheinander vergessen hatte, seinen Lieblingstisch im Ladies’ Garden
zu reservieren. Er wußte, daß Mr. Sethna eine Möglichkeit finden würde, ihn diese
Nachlässigkeit büßen zu lassen.
    Ein Mißverständnis am Pinkelbecken
    Zur Strafe
hatte Mr. Sethna den Tisch des Doktors dem Ehepaar Kohinoor und Mrs. Kohinoors penetranter,
unverheirateter Schwester gegeben. Letztere hatte eine so durchdringende Stimme,
daß nicht einmal das Blumenspalier des Ladies’ Garden [721]  ihr schrilles Gewieher
dämpfen konnte. Dr. Daruwalla und seine Gäste hatte Mr. Sethna, vermutlich mit Absicht,
an einen Tisch in einer vernachlässigten Ecke der Laube gesetzt, wo einen die Kellner
entweder ignorierten oder vom Speisesaal aus gar nicht sehen konnten. Eine abgerissene
Bougainvillearanke hing vom Dach der Laube herab und streifte Dr. Daruwallas Nacken
wie eine Kralle. Das einzig Positive war, daß heute kein chinesischer Tag war. Madhu
und Ganesh bestellten vegetarische kabobs , verschiedene, auf Spießen gebratene
oder gegrillte Gemüse. Kinder durften dieses Gericht manchmal mit den Fingern essen.
Während der Doktor hoffte, daß auf diese Weise unbemerkt bleiben würde, daß Madhu
und Ganesh nicht mit Messer und Gabel umgehen konnten, stellte Mr. Sethna Vermutungen
darüber an, wessen Kinder das sein mochten.
    Der alte Butler
bemerkte, daß der Krüppel seine eine Sandale abgestreift hatte. Die Schwielen an
der Fußsohle seines gesunden Fußes waren so dick wie bei einem Bettler. Der

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