Zirkuskind
Orchesterpodium über der Manege, in die noch immer Menschen
strömten. Die vier Besucher im Sattelgang standen allen im Weg, doch Mr. Das, der
Zirkusdirektor, hatte ihnen ihre Plätze noch nicht zugewiesen. Martin Mills schlug
vor, daß sie sich selbst Plätze suchten, bevor das Zelt voll war, aber Dr. Daruwalla
hielt nichts von solcher Eigeninitiative. Während sich die beiden stritten, was
zu tun sei, kam der Schimpanse, der auf dem Pferd seine Vorwärtssaltos machte, aus
dem Rhythmus. Martin Mills hatte ihn abgelenkt.
Der Schimpanse war
ein altes Männchen, das Gautam hieß, weil es bereits als Baby eine bemerkenswerte
Ähnlichkeit mit Buddha gezeigt hatte. Gautam konnte stundenlang in derselben Stellung
dahocken und einen Punkt anstarren. Mit zunehmendem Alter hatte er seine Fähigkeit
zum Meditieren auf gewisse, sich wiederholende Übungen ausgedehnt; die Vorwärtssaltos
auf dem Pferderücken waren nur ein Beispiel dafür. Gautam konnte diese Bewegung
unermüdlich wiederholen. Ob das Pferd galoppierte oder stillstand, der Schimpanse
landete stets auf dem Sattel. Allerdings hatte Gautams Begeisterung für seine Vorwärtssaltos
und auch seine sonstigen Aktivitäten in letzter Zeit nachgelassen. Kunal, sein Tierlehrer,
schrieb Gautams [746] schwindenden Enthusiasmus der Tatsache zu, daß der gewaltige
Schimpanse in Mira, eine junge Schimpansin, vernarrt war. Mira war neu im Great
Blue Nile, und es war offensichtlich, daß Gautam – häufig zu den unpassendsten Zeiten
– nach ihr schmachtete.
Wenn er Mira erblickte,
während er seine Vorwärtssaltos machte, verfehlte Gautam nicht nur den Sattel, sondern
das ganze Pferd. Deshalb ritt Mira auf einem Pferd ganz am Ende der Tierprozession,
die beim Charivari zu Beginn der Vorstellung ihre Runden in der Manege drehte. Nur
beim Aufwärmen im Sattelgang konnte Gautam einen kurzen Blick auf Mira werfen; sie
wurde in der Nähe der Elefanten gehalten, weil Gautam vor den Elefanten Angst hatte.
Dieser kurze Blick auf Mira, der dem mächtigen Schimpansen vergönnt war, während
er darauf wartete, daß der Vorhang aufging und die Musik zum Charivari einsetzte,
reichte, um ihn in eine tranceähnliche Entrücktheit zu versetzen. Mechanisch machte
er in Abständen von fünf Sekunden wie unter einem leichten Elektroschock seine Vorwärtssaltos.
Am Rande von Gautams Gesichtsfeld war Mira gegenwärtig – zwar in weiter Ferne, aber
das genügte, um ihn zu besänftigen.
Wenn Gautam der
Blick auf Mira verstellt war, machte ihn das tief unglücklich. Nur Kunal durfte
zwischen ihn und Mira treten. Und Kunal stand nie ohne seinen Stock in Gautams Nähe,
denn Gautam war riesig für einen Schimpansen; Kunal zufolge wog er siebzig Kilo
und war fast einen Meter fünfzig groß.
Kurz und gut: Martin
Mills stand zur falschen Zeit am falschen Fleck. Nach dem Angriff spekulierte Kunal,
Gautam habe den Missionar womöglich für einen anderen männlichen Schimpansen gehalten.
Martin hatte Gautam nicht nur den Blick auf Mira verstellt, sondern Gautam dachte
womöglich, der Missionar buhle um Miras Zuneigung – denn Mira war ein sehr zärtliches
Weibchen, und ihre Freundlichkeit (gegenüber anderen Schimpansenmännchen) trieb
Gautam regelmäßig zum [747] Wahnsinn. Was nun die Frage anging, warum Gautam Martin
Mills irrtümlich für einen Affen gehalten haben mochte, meinte Kunal, Gautam habe
die bleiche Haut des Scholastikers sicher als unnatürlich für einen Menschen empfunden.
Wenn Martins Hautfarbe schon für die Bewohner von Junagadh eine Neuheit war – die
ihn vorher mit großen Augen angeglotzt und zudringlich angefaßt hatten –, um wieviel
fremdartiger mußte sie dann Gautam mit seinem beschränkten Erfahrungshort vorkommen!
Da Martin Mills für Gautam nicht wie ein Mensch aussah, hatte dieser ihn wahrscheinlich
für einen männlichen Schimpansen gehalten.
Aufgrund solcher
Überlegungen unterbrach Gautam wohl auch seine Vorwärtssaltos auf dem Pferderücken.
Der Schimpanse kreischte einmal und fletschte die Zähne. Dann sprang er mit einem
Satz von seinem Pferd und über ein zweites hinweg, landete auf Martins Brust und
Schultern und stieß den Missionar rücklings zu Boden. Sodann bohrte er dem verblüfften
Jesuiten die Zähne in den Hals. Zum Glück hatte Martin seine Kehle mit der Hand
geschützt, was jedoch zur Folge hatte, daß diese ebenfalls einen Biß abbekam. Als
alles vorbei war, hatte Martin eine tiefe lochartige Wunde seitlich am Hals, eine
klaffende Schnittwunde
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