Zirkuskind
Feldbetten standen alle
in Reih und Glied, wie in einer Militärbaracke – ein Eindruck, der durch die nahezu
schmucklosen Wände noch verstärkt wurde. Der blanke Erdboden war vollständig mit
Teppichen ausgelegt, leuchtendbunte Stoffballen für Kostüme hingen hoch oben unter
dem Zeltdach, wo sie nicht im Weg waren, und neben dem Fernseher und dem Videorecorder
stand an augenfälliger Stelle ein provisorischer Hausaltar mit allem, was dazu gehörte.
Madhu wurde eins
der Feldbetten zugewiesen; Mr. Das brachte sie zwischen zwei älteren Mädchen unter,
die sich (wie er sagte) um sie kümmern würden. Seine Frau, so versicherte ihnen
der Zirkusdirektor, würde sich ebenfalls um Madhu »kümmern«. Mrs. Das indessen stand
nicht einmal von ihrem Feldbett auf, um sie zu begrüßen. Sie saß da und nähte Pailletten
auf ein Kostüm und wandte sich erst an Madhu, als sie das Zelt verließen.
»Ich sehe dich dann
morgen«, sagte sie zu dem Mädchen.
»Um wieviel Uhr
sollen wir morgen früh kommen?« fragte Dr. Daruwalla, aber Mrs. Das, die etwas von
der gequälten Strenge einer verbiesterten Tante an sich hatte, gab keine Antwort.
Ihr Kopf blieb gesenkt, der Blick auf die Näharbeit geheftet.
»Kommen Sie nicht
zu früh, weil wir fernsehen«, sagte Mr. Das zum Doktor.
Ja, natürlich… ,
dachte Dr. Daruwalla.
Das Feldbett für
Ganesh würde im Küchenzelt aufgestellt werden, wohin Mr. Das sie begleitete – und
sie sodann mit der Begründung verließ, er müsse sich für die Abendvorstellung um
halb zehn bereitmachen. Der Koch, der Chandra hieß, ging davon aus, daß Ganesh zu
ihm geschickt worden war, um ihm zu [744] helfen, und begann dem Krüppel die diversen
Küchenutensilien zu erläutern. Ganesh hörte ihm gleichgültig zu – kein Wunder, denn
der Junge wollte die Löwen sehen.
»Kadhai«, ein Wok.
»Jhara«, eine Schöpfkelle mit Löchern. »Kisni«, eine Kokosnußreibe. Von draußen
aus der Dunkelheit drang in regelmäßigen Abständen das Brüllen der Löwen zu ihnen
herein. Die Präsenz des Publikums, das noch immer nicht ins Spielzelt durfte, war,
ähnlich wie die der Löwen in der Dunkelheit spürbar, unruhig und murrend. Dr. Daruwalla
bemerkte die Moskitos erst, als er zu essen begann. Man aß im Stehen, von Tellern
aus rostfreiem Stahl – mit Curry gewürzte Kartoffeln und Auberginen mit zuviel Kreuzkümmel.
Anschließend bekamen sie rohes Gemüse – Karotten, Rettiche, Zwiebeln und Tomaten –, das sie mit lauwarmer Orangenlimonade hinunterspülten. Bier gab es nicht. In
Gujarat herrschte Alkoholverbot – natürlich weil Gandhi hier geboren war, dieser
fade Abstinenzler, überlegte Farrokh, der fürchtete, daß er nun die ganze Nacht
wach liegen würde. Er hatte sich darauf verlassen, daß ihn ein paar Biere von seinem
Drehbuch abhalten und ihm helfen würden einzuschlafen. Dann fiel ihm ein, daß er
sich das Zimmer mit Madhu teilte. In dem Fall wäre es wohl das beste, die ganze
Nacht wach zu bleiben und überhaupt kein Bier zu trinken.
Während der ganzen,
ohnehin ungemütlichen und unerquicklichen Mahlzeit fuhr Chandra fort, Ganesh die
einzelnen Gemüsesorten zu benennen, als ginge er davon aus, daß der Junge bei dem
Unfall, bei dem sein Fuß zerquetscht worden war, auch die Sprache verloren hatte:
»Aloo« – Kartoffel,»Chawli« – weiße Bohne, »Baigan« – Aubergine. Madhu, die sich
offensichtlich vernachlässigt fühlte, begann zu zittern. Sicher hatte sie in ihrer
kleinen Tasche ein Schultertuch oder einen Pullover, aber das ganze Gepäck lag noch
im Landrover, der weiß Gott wo geparkt war; Ramu, der Fahrer, war auch weiß Gott
wo. Außerdem würde die Spätvorstellung bald anfangen.
[745] Als sie in die
Gasse zwischen den Wohnzelten hinaustraten, trafen sie auf die Artisten, die bereits
ihre Trikots anhatten, und die Elefanten, die zum Spielzelt geführt wurden. Im Aufsitzraum
vor der Manege, auch Sattelgang genannt, standen die Pferde in Reih und Glied. Ein
Requisiteur hatte bereits das erste Pferd gesattelt. Ein Dresseur stupste einen
mächtigen Schimpansen mit einem Stock, worauf dieser fast zwei Meter senkrecht in
die Höhe sprang. Obwohl das Pferd nervös vorwärts tänzelte, landete der Schimpanse
sicher auf dem Sattel. Dort blieb er auf allen vieren hocken, bis der Dresseur den
Sattel mit seinem Stock berührte, worauf der Schimpanse einen Vorwärtssalto auf
dem Pferderücken machte und dann noch einen und noch einen.
Die Zirkuskapelle
saß bereits auf dem
Weitere Kostenlose Bücher