Zirkuskind
von der Handwurzel bis zum Daumenballen, und von seinem rechten
Ohrläppchen fehlte ein kleines Stück. Gautam war zu kräftig, als daß ihn der Missionar
hätte abschütteln können, aber Kunal gelang es, den Affen mit dem Stock wegzujagen.
Währenddessen kreischte Mira die ganze Zeit, ob aus Mißfallen oder um ihre Liebe
kundzutun, ließ sich schwer feststellen.
Die Diskussion,
ob die Attacke des Schimpansen auf rassistische Motive oder blinde Eifersucht oder
gar beides zurückzuführen war, wurde während der gesamten Spätvorstellung fortgesetzt.
Martin Mills ließ nicht zu, daß Dr. Daruwalla seine Wunden vor dem Ende der Vorstellung
versorgte. Er vertrat hartnäckig den Standpunkt, die Kinder würden aus seiner stoischen
Haltung – nach Ansicht des Doktors handelte es sich um [748] einen albernen Stoizismus
vom Die-Show-muß-weitergehen-Kaliber –, eine wertvolle Lehre ziehen. Aber Madhu
und Ganesh wurden durch das fehlende Ohrläppchen des Missionars und die sonstigen
blutigen Spuren des wüsten Affenbisses nur abgelenkt. Madhu achtete kaum auf die
Darbietungen. Dr. Daruwalla hingegen ließ sich keine Minute der Vorstellung entgehen.
Ihm war es nur recht, den Missionar bluten zu lassen, denn er wollte die Vorstellung
um nichts in der Welt versäumen.
Ein perfekter Schluß
Die besseren
Nummern waren vom Great Royal abgekupfert – vor allem der sogenannte Fahrradwalzer,
zu dem das Orchester »The Yellow Rose of Texas« spielte. Eine schlanke, muskulöse
Frau mit ausgeprägt sehniger Kraft zeigte in rasantem, mechanischem Tempo den Deckenlauf.
Das Publikum war nicht besorgt um sie; obwohl sie ohne Sicherheitsnetz arbeitete,
hielt niemand aus Angst, sie könnte abstürzen, den Atem an. Während Suman stets
wunderschön und verletzlich wirkte – wie man das von einer jungen Frau erwarten
durfte, die in fünfundzwanzig Metern Höhe kopfunter in der Zirkuskuppel hing –,
ähnelte die Artistin im Great Blue Nile einem Roboter mittleren Alters. Sie hieß
Mrs. Bhagwan, war die Assistentin des Messerwerfers und außerdem seine Frau.
Bei der Messerwerfer-Nummer
wurde Mrs. Bhagwan mit gespreizten Armen und Beinen auf eine Holzscheibe geschnallt,die
wie eine Zielscheibe bemalt war, wobei ihr Bauch genau auf der schwarzen Mitte lag.
Im Verlauf der Nummer drehte sichdie Scheibe schneller und immer schneller, und
Mr. Bhagwan schleuderte ein Messer nach dem anderen auf seine Frau. Wenn die Scheibe
angehalten wurde, steckten die Messer überall im Holz, ohne daß man ein bestimmtes
Muster hätte erkennen [749] können; nur in Mrs. Bhagwans ausgestrecktem Körper steckte
kein Messer.
Mr. Bhagwans zweite
Spezialität war eine Nummer, die »Elefantenbrücke« heißt und fast in jedem indischen
Zirkus gezeigt wird. Mr. Bhagwan liegt in der Manege, zwischen Matratzen geschichtet
wie zwischen Brotscheiben, über die dann eine Planke gelegt wird. Ein Elefant geht
auf dieser Planke über Mr. Bhagwans Brust. Farrokh stellte fest, daß das die einzige
Nummer war, bei der Ganesh nicht meinte, die könnte er auch, obwohl sein verkrüppelter
Fuß ihn nicht daran gehindert hätte, einen Elefanten über sich hinweggehen zu lassen.
Als Mr. Bhagwan
einmal unter akutem Durchfall litt, hatte seine Frau seinen Platz bei dieser Nummer
eingenommen. Aber offenbar war sie zu dünn für die Elefantenbrücke. Angeblich soll
sie tagelang innere Blutungen gehabt haben und, auch nachdem sie sich wieder erholt
hatte, nie mehr die alte gewesen sein. Der Elefant hatte nicht nur ihren Stoffwechsel,
sondern auch ihr seelisches Gleichgewicht durcheinandergebracht.
Soweit Farrokh erkennen
konnte, waren Mrs. BhagwansVersion des Deckenlaufs und ihr passiver Beitrag zu der
Messerwerfer-Nummer gleich einzuordnen. Beide Male ging es weniger um eine Fähigkeit,
die sie erworben hatte, oder gar um ein dramatisches Geschehen, das inszeniert wurde,
als darum, daß sie sich mechanisch in ihr Schicksal fügte. Ein falsch plaziertes
Messer ihres Mannes oder der Sturz aus fünfundzwanzig Metern Höhe – für sie war
das ein und dasselbe. Mrs. Bhagwan war nach Ansicht von Dr. Daruwalla wirklich ein
Roboter. Möglicherweise war daran die Elefantenbrücke schuld.
Diesen Eindruck
hatte zumindest Mr. Das, wie er Farrokh anvertraute. Als sich der Zirkusdirektor
kurz zu ihnen in den Zuschauerraum setzte – um sich für Gautams brutale Attacke
zu entschuldigen und den Spekulationen des Doktors und des Jesuiten über den Rassismus
und/oder die blinde Eifersucht
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