Zirkuskind
Publikum ungeheuer gefiel. Der elefantenfüßige Junge lächelte heiter
im Halbdunkel.
»Dann müßte also
nur mein gesunder Fuß kräftiger werden… wollen Sie das damit sagen?« fragte der
Krüppel.
»Was ich damit sagen
will, ist folgendes: Dein Job bestehtaus Löwenpisse und Elefantenkacke. Und vielleicht,
wenn du Glück hast«, erklärte Farrokh, »lassen sie dich irgendwann im Küchenzelt
arbeiten.«
Jetzt kamen, wie
zu Beginn beim Charivari, die Ponys und Elefanten in die Manege, und die Kapelle
spielte ziemlich laut, so daß man unmöglich hören konnte, wie Gautam geschlagen
wurde. Madhu hatte kein einziges Mal gesagt: »Das könnte ich auch machen« – bei
keiner einzigen Nummer –, während der elefantenfüßige Junge dasaß und sich bereits
vorstellte, daß er den Deckenlauf lernen könnte.
»Da oben«, sagte
Ganesh zu Dr. Daruwalla und zeigte in die Zirkuskuppel hinauf, »würde ich gehen,
ohne zu humpeln.«
»Schlag dir das
bloß aus dem Kopf«, sagte der Doktor.
Aber dem Drehbuchautor
ging der Gedanke selbst nicht mehr aus dem Kopf, denn das wäre der perfekte Schluß
für seinen Film. Nachdem der Löwe Pinky getötet und der Säuremann seine gerechte
Strafe erhalten hat (vielleicht könnte dem Bösewicht durch [753] Zufall Säure in den
Schritt geschüttet werden), weiß Ganesh, daß der Zirkus ihn nicht behalten wird,
wenn er nicht einen eigenen Beitrag leistet. Niemand glaubt, daß er den Deckenlauf
lernen kann – Suman weigert sich, den verkrüppelten Jungen anzuleiten, und Pratap
erlaubt ihm nicht, am Übungsgerät im Gemeinschaftszelt zu trainieren. Er kann den
Deckenlauf also nur im Spielzelt lernen. Wenn er ihn ausprobieren will, muß er zu
der echten Leiter hinaufklettern und die echte Nummer absolvieren – in fünfundzwanzig
Metern Höhe, ohne Netz.
Was für eine grandiose
Szene! dachte der Drehbuchautor. Bei Anbruch der Dämmerung stiehlt sich der Junge
aus dem Küchenzelt. Im Spielzelt ist kein Mensch, so daß ihn niemand die Strickleiter
in die Zirkuskuppel hinaufklettern sieht. »Wenn ich herunterfalle, bedeutet das
den Tod«, sagt die Stimme des Jungen. »Wenn dich niemand sterben sieht, spricht
niemand ein Gebet für dich.« Toller Satz! dachte Daruwalla und fragte sich, ob er
stimmte.
Die Kamera befindet
sich fünfundzwanzig Meter unter dem Jungen, als sich dieser kopfüber an die Leiter
hängt. Er hält sich mit beiden Händen seitlich am Gestänge fest, während er erst
seinen gesunden Fuß und dann den verkrüppelten in die ersten beiden Schlaufen steckt.
An der Leiter hängen achtzehn Seilschlaufen; der Deckenlauf besteht aus sechzehn
Schritten. »Es gibt einen Augenblick, in dem deine Hände loslassen müssen«, sagt
Ganeshs Stimme. »Ich weiß nicht, in wessen Händen ich dann bin.«
Der Junge läßt die
Leiter mit beiden Händen los und hängt nur noch an den Füßen. (Der Trick besteht
darin, daß man den Körper in Pendelbewegung versetzt, den Schwung, den man dadurch
erhält, nutzt man, um vorwärts zu gehen – einen Schritt nach dem anderen, aus der
ersten Schlaufe in die übernächste, immer noch pendelnd. Bloß den Schwung nicht
verlieren… die Vorwärtsbewegung gleichmäßig halten.) »Ich glaube, es gibt [754] einen
Augenblick, in dem du entscheiden mußt, wo du hingehörst«, sagt die Stimme des Jungen.
Jetzt fährt die Kamera aus fünfundzwanzig Metern Entfernung auf ihn zu. Sie tastet
sich an seine Füße heran. »In dem Augenblick bist du in niemandes Händen«, sagt
die Stimme. »In diesem Augenblick hängt jeder in der Luft.«
Aus einer anderen
Perspektive sehen wir, daß der Koch entdeckt hat, was Ganesh da macht. Er steht
wie versteinert da, schaut hinauf – und zählt. Andere Artisten sind ins Zelt gekommen
– Pratap Singh, Suman, die Zwergclowns (einer von ihnen putzt sich noch die Zähne).
Ihre Blicke folgen dem verkrüppelten Jungen. Alle zählen mit, alle wissen, wie viele
Schritte der Deckenlauf hat.
»Sollen ruhig andere
das Zählen übernehmen«, sagt Ganeshs Stimme. »Ich sage mir vor, ich gehe einfach
nur… Ich denke nicht, ich gehe an der Decke, ich denke einfach nur, ich gehe. Das
ist mein kleines Geheimnis. Niemand anderer wäre sonderlich beeindruckt von dem
Gedanken, einfach zu gehen. Niemand anderer könnte sich ganz fest darauf konzentrieren.
Aber für mich ist der Gedanke, einfach zu gehen, etwas ganz Besonderes. Ich sage
mir vor, ich gehe, ohne zu hinken.«
Nicht schlecht,
dachte Daruwalla. Und später müßte es
Weitere Kostenlose Bücher