Zirkuskind
noch eine Szene mit dem Jungen im Artistenkostüm
geben, in einem mit blaugrünen Pailletten bestickten Trikot. Während Ganesh im Zahnhang
nach unten gleitet und im Licht der Scheinwerfer kreiselt, werfen die glitzernden
Pailletten das Licht zurück. Der Junge dürfte den Boden nicht berühren, sondern
müßte in Prataps ausgestreckte Arme gleiten. Pratap hebt den Jungen hoch und zeigt
ihn dem jubelnden Publikum. Dann läuft er mit Ganesh in den Armen aus der Manege
– denn nachdem ein Krüppel über den Zelthimmel gelaufen ist, darf ihn niemand hinken
sehen.
Es könnte funktionieren,
dachte der Drehbuchautor.
[755] Nach der Vorstellung
gelang es ihnen, die Stelle zu finden, an der Ramu den Landrover geparkt hatte,
doch Ramu selbst ließ sich nirgends blicken. Zu viert brauchten sie zwei Rikschas
für die Fahrt durch die Stadt zum Staatlichen Gästehaus. Madhu und Farrokh folgten
der Rikscha, in der Ganesh und Martin Mills saßen. Es handelte sich um diese dreirädrigen
Rikschas, die Dr. Daruwalla nicht ausstehen konnte. Der alte Lowji hatte einmal
erklärt, diese Gefährte seien etwa so sinnvoll wie ein Moped, das einen Liegestuhl
hinter sich herzieht. Aber Madhu und Ganesh genossen die Fahrt. Während ihre Rikscha
dahinrumpelte, packte Madhu Farrokhs Knie fest mit einer Hand. Dr. Daruwalla überzeugte
sich, daß es ein kindlicher Griff war, kein lüsternes Betasten. Mit der anderen
Hand winkte sie Ganesh zu. Während er sie ansah, dachte der Doktor die ganze Zeit:
Vielleicht geht mit dem Mädchen doch noch alles gut – vielleicht schafft sie es.
Auf dem Schmutzfänger
der Rikscha vor ihnen bemerkte Farrokh das Konterfei eines Filmstars, möglicherweise
ein schlechtes Bild von Madhuri Dixit oder Jaya Prada – jedenfalls war es nicht
Inspector Dhar. Hinter dem billigen Plastikfenster der Rikscha sah man Ganeshs Gesicht
– das des echten Ganesh, wie sich der Drehbuchautor vergegenwärtigen mußte. Es war
einfach ein perfekter Schluß, dachte er, zumal ihn der echte Krüppel auf diese Idee
gebracht hatte.
Die dunklen Augen
des Jungen glänzten hinter dem Fenster der holpernden Rikscha. Der Scheinwerfer
der zweiten Rikscha wanderte immer wieder über sein lächelndes Gesicht. Trotz der
Entfernung zwischen den beiden Rikschas und trotz der Dunkelheit bemerkte Dr. Daruwalla,
daß die Augen des Jungen gesund aussahen; den leichten Ausfluß und die von der Tetracyclinsalbe
stammende Trübung konnte man nicht sehen. Aus dieser Perspektive ließ sich unmöglich
feststellen, daß Ganesh verkrüppelt war. Er sah aus wie ein normaler, glücklicher
Junge.
Der Doktor wünschte
sich sehnlichst, es wäre wahr.
[756] Die Nacht der zehntausend Stufen
Im Hinblick
auf Martins fehlendes Ohrläppchen war nichts zu machen. Alles in allem verabreichte
ihm Dr. Daruwalla zwei 10-ml-Ampullen Anti-Tollwut-Globulin; je eine halbe Ampulle
spritzte er direkt in die drei Wundbereiche – das Ohrläppchen, den Hals und die
Hand –, und die restliche halbe Ampulle injizierte er Martin intramuskulär ins Gesäß.
Die Hand war am
schlimmsten – eine klaffende Wunde, in die der Doktor Jodoformgaze stopfte. Die
Bißwunde mußte offenbleiben und von innen heraus zuheilen, weshalb Dr. Daruwalla
sie auch nicht zunähte. Und er bot Martin Mills auch kein Schmerzmittel an, weil
er beobachtet hatte, daß dieser seinen Schmerz genoß. Allerdings gestattete ihm
sein begrenzter Sinn für Humor nicht, Dr. Daruwallas Scherz zu würdigen – nämlich
daß der Jesuit offensichtlich an »Schimpansenstigmata« litt. Auch konnte der Doktor
der Versuchung nicht widerstehen, den Scholastiker darauf hinzuweisen, daß seine
eigenen Wunden den besten Beweis lieferten, daß was immer Farrokh in Goa gebissen
(und bekehrt) hatte, garantiert kein Schimpanse gewesen war. Ein solcher Menschenaffe
hätte die ganze Zehe verspeist, womöglich den halben Fuß.
»Noch immer verärgert
über Ihr Wunder, wie ich sehe«, entgegnete Martin.
In dieser gereizten
Stimmung sagten sich die beiden Männer gute Nacht. Farrokh beneidete den Jesuiten
nicht um die Aufgabe, Ganesh zu beruhigen, denn der Elefantenjunge war viel zu aufgeregt,
um zu schlafen, und konnte es kaum erwarten, daß sein erster ganzer Tag im Zirkus
anbrach. Madhu hingegen wirkte gelangweilt und teilnahmslos, wenn auch nicht unbedingt
müde.
Die beiden Zimmer
im Staatlichen Gästehaus lagen nebeneinander im dritten Stock. Von Farrokhs und
Madhus Zimmer führten zwei Glastüren auf einen kleinen,
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