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Zirkuskind

Zirkuskind

Titel: Zirkuskind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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völlig mit Vogeldreck [757]  bekleckerten
Balkon. Sie hatten ein eigenes Bad mit Waschbecken und Toilette, aber ohne Tür.
An ihrer Stelle hing an einer Vorhangstange ein Teppich, der nicht einmal bis zum
Boden reichte. Die Toilette ließ sich nur mit Hilfe eines Eimers spülen, der praktischerweise
unter einem tropfenden Wasserhahn stand. Eine Art Dusche gab es auch: ein offenes
Rohr ohne Duschkopf, das aus der Badezimmerwand ragte. Ein Duschvorhang war nicht
da, aber der Boden fiel zu einem offenen Abfluß hin ab, der (bei näherer Betrachtung)
anscheinend einer Ratte als vorübergehende Wohnstatt diente; Farrokh sah gerade
noch ihren Schwanz durch das Loch verschwinden. In der Nähe des Abflusses lag ein
weitgehend aufgebrauchtes Stück Seife mit angeknabberten Rändern.
    Die beiden Betten
im Schlafzimmer standen viel zu nah beieinander – und steckten zweifellos voller
Ungeziefer. Beide Moskitonetze waren gelb und brüchig, eines war zerrissen. Das
eine Fenster, das sich öffnen ließ, hatte kein Fliegengitter und ließ nur wenig
frische Luft herein. Dr. Daruwalla fand, sie könnten ebensogut die Glastüren zum
Balkon aufmachen, aber Madhu hatte Angst, daß ein Affe ins Zimmer kommen könnte.
    Der Deckenventilator
hatte nur zwei Geschwindigkeiten: Die eine war so langsam, daß der Ventilator keine
Wirkung zeigte, die andere so schnell, daß die Moskitonetze von den Betten weggeweht
wurden. Im Zirkuszelt hatten sie die Nachtluft als kalt empfunden, doch im dritten
Stock des Staatlichen Gästehauses war es heiß und stickig. Madhu löste dieses Problem,
indem sie als erste ins Bad ging, ein Handtuch naß machte, es auswrang und sich
dann, nackt, darunterlegte – auf das bessere Bett, das mit dem unversehrten Moskitonetz.
Madhu war klein, aber das Handtuch ebenfalls; es bedeckte kaum ihre Brüste und ließ
ihre Oberschenkel frei. Das Mädchen weiß, was es will, dachte der Doktor.
    Während sie so dalag,
sagte sie: »Ich habe noch Hunger. Es hat kein Dessert gegeben.«
    [758]  »Möchtest du
einen Nachtisch?« fragte Dr. Daruwalla.
    »Wenn er süß ist«,
sagte sie.
    Der Doktor trug
den lauwarmen Thermosbehälter mit dem restlichen Tollwut-Impfstoff und dem Immun-Globulin
in die Hotelhalle hinunter, weil er hoffte, daß es dort einen Kühlschrank gab, in
dem er das Zeug deponieren konnte. Was würde geschehen, wenn Gautam morgen jemand
anderen biß? Kunal hatte den Doktor wissen lassen, daß der Schimpanse »fast garantiert«
tollwütig war. Tollwütig oder nicht, man sollte ihn nicht schlagen. Nach Ansicht
des Doktors wurden nur in zweitklassigen Zirkussen Tiere geschlagen.
    In der Hotelhalle
saß ein junger Muslim am Empfang und hörte sich Radio Qawwali an, muslimische Lobpreisungen
Gottes. Dazu aß er Eiscreme, wie es schien. Sein Kopf ging beim Essen auf und ab,
und mit dem Löffel dirigierte er die Luft zwischen dem Pappbecher und seinem Mund.
Aber es war kein Eis, erklärte der Junge Dr. Daruwalla; er bot ihm einen Löffel
voll an und forderte ihn auf zu probieren. Die Konsistenz war anders als bei Eiscreme
– es war ein safranfarbener, nach Kardamom riechender und mit Zucker gesüßter Joghurt.
In einer Ecke stand ein ganzer Kühlschrank voll mit diesem Zeug, und Farrokh nahm
einen Becher und einen Löffel für Madhu mit. Dafür legte er den Impfstoff und das
Immun-Globulin hinein, nachdem er sich vergewissert hatte, daß der Junge nicht so
dumm sein würde, das Zeug zu trinken.
    Als der Doktor ins
Zimmer zurückkehrte, hatte Madhu das Handtuch beiseite geworfen. Er versuchte ihr
das für Gujarat typische Dessert durch das Moskitonetz zu reichen, ohne sieanzusehen,
was sie ihm, wahrscheinlich mit Absicht, schwermachte – er war überzeugt, daß sie
nur so tat, als wüßte sie nicht, wo das Moskitonetz aufging. Sie saß nackt im Bett,
aß den gesüßten Joghurt und sah Farrokh zu, wie er seine Schreibutensilien auspackte.
    [759]  Im Zimmer gab
es einen wackeligen Tisch, darauf eine dicke, mit Wachs in einem Aschenbecher befestigte
Kerze, eine Schachtel Streichhölzer und eine Moskitospirale. Als Farrokh die Seiten
seines Drehbuchs ausgebreitet und den unbeschriebenen Packen Papier mit der Hand
glattgestrichen hatte, zündete er die Kerze und die Moskitospirale an und schaltete
das Deckenlicht aus. Bei der hohen Geschwindigkeit hätte der Deckenventilator sein
Papier und Madhus Moskitonetz weggeweht, also ließ der Doktor ihn auf niedriger
Stufe weiterlaufen. Obwohl das wirkungslos war, hoffte er,

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