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Zirkuskind

Zirkuskind

Titel: Zirkuskind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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die Bewegung der Ventilatorblätter
würde Madhu schläfrig machen.
    »Was machen Sie
da?« fragte ihn die Kindprostituierte.
    »Ich schreibe«,
sagte er.
    »Lesen Sie es mir
vor«, bat Madhu.
    »Du würdest es nicht
verstehen«, entgegnete Farrokh.
    »Werden Sie denn
schlafen?« fragte das Mädchen.
    »Später vielleicht«,
sagte Dr. Daruwalla.
    Er versuchte sie
aus seinen Gedanken auszublenden, aber das war nicht so einfach. Sie ließ ihn nicht
aus den Augen; das Geräusch ihres Löffels im Joghurtbecher war so regelmäßig wie
das leise Dröhnen des Ventilators. Ihre vorsätzliche Nacktheit war bedrückend, allerdings
nicht, weil sie ihn wirklich gereizt hätte. Sex mit ihr zu haben (allein schon der
Gedanke) erschien ihm plötzlich als der Inbegriff des Bösen. Er wollte gar keinen
Sex mit ihr – er verspürte nur eine ganz flüchtige Begierde –, aber ihre überdeutliche
Verfügbarkeit betäubte seine anderen Sinne. Dabei war er sich bewußt, daß sich ein
so reines Übel, etwas so eindeutig Verkehrtes, wohl selten so folgenlos darbot.
Das war ja gerade das Entsetzliche: Wenn er ihr gestattete, ihn zu verführen, würde
das kein negatives Nachspiel haben – außer daß er sich, immer und ewig, daran erinnern
und schuldig fühlen würde.
    Das Mädchen konnte
von Glück sagen, daß sie nicht HIV -positiv war. Daruwalla hatte wie
üblich in Indien Kondome im [760]  Gepäck. Und Madhu würde keinem Menschen etwas sagen;
sie redete nicht viel. In ihrer derzeitigen Situation hatte sie vielleicht gar keine
Gelegenheit mehr dazu. Es war nicht nur die befleckte Unschuld dieses Kindes, die
ihn davon überzeugte, daß dies das Böse in Reinkultur war – schlimmer als alles,
was er sich je hatte vorstellen können –, sondern auch ihre aufdringliche Amoralität
– egal, ob sie diese nun im Bordell erworben oder ob der abscheuliche Mr. Garg sie
ihr beigebracht hatte. Was immer man ihr antat, man selbst würde nicht dafür bezahlen
– nicht in diesem Leben, oder höchstens mit Schuldgefühlen. Das waren die finstersten
Gedanken, die Dr. Daruwalla je gewälzt hatte, aber trotzdem dachte er sie zu Ende.
Dann begann er wieder zu schreiben. Anhand der Bewegung seines Bleistifts schien
Madhu (die ihn die ganze Zeit beobachtet hatte) zu spüren, daß sie ihn verloren
hatte. Außerdem war ihr Dessert aufgegessen. Sie stieg aus dem Bett, ging nackt
zu ihm hinüber und linste ihm über die Schulter, als könnte sie lesen, was er schrieb.
Der Drehbuchautor spürte ihr Haar an seiner Wange und im Nacken.
    »Lesen Sie es mir
vor, nur dieses Stück«, sagte Madhu. Sie lehnte sich fester an ihn, während sie
die Hand ausstreckte und mit dem Finger auf den letzten Satz zeigte. Ihr Atem roch
widerwärtig nach dem mit Kardamom gewürzten Joghurt, versetzt mit einem Geruch,
der an verwelkte Blumen erinnerte – vielleicht der Safran.
    Der Drehbuchautor
las laut vor: »›Zwei Krankenträger in weißen dhotis laufen mit dem Säuremann vorbei,
der zusammengekrümmt wie ein Fötus auf der Bahre liegt, das Gesicht schmerzverzerrt,
während noch Säurerauch aus seiner Leistengegend aufsteigt.‹«
    Madhu ließ sich
den Satz noch einmal vorlesen. Dann fragte sie: »Wie was zusammengekrümmt?«
    »Wie ein Fötus«,
sagte Dr. Daruwalla. »Wie ein Baby im Mutterleib.«
    [761]  »Wer ist der
Säuremann?« fragte ihn die Kindprostituierte.
    »Ein Mann, dessen
Gesicht durch Säure verunstaltet wurde – wie bei Mr. Garg«, erklärte Farrokh. Bei
der Erwähnung von Gargs Namen verriet das Gesicht des Mädchens keinen Funken des
Wiedererkennens. Der Doktor weigerte sich, ihren nackten Körper anzusehen, obwohl
Madhu noch immer an seiner Schulter hing. Dort, wo sie sich an ihn schmiegte, spürte
er, wie er zu schwitzen begann.
    »Und aus welcher
Gegend kommt der Rauch?« fragte Madhu.
    »Aus der Leistengegend«,
antwortete der Drehbuchautor.
    »Und wo ist das?«
fragte ihn die Kindprostituierte.
    »Du weißt, wo das
ist, Madhu. Geh wieder ins Bett«, sagte er zu ihr.
    Sie hob einen Arm
und zeigte ihm ihre Achselhöhle. »Die Haare wachsen nach«, sagte sie. »Sie können
sie fühlen.«
    »Ich kann sehen,
daß sie nachwachsen, ich brauche sie nicht zu fühlen«, erwiderte Farrokh.
    »Es wächst überall
nach«, sagte Madhu.
    »Geh wieder ins
Bett«, wiederholte der Doktor.
    Als ihr Atem flacher
ging, wußte er, daß sie eingeschlafen war. Erst dann hielt er es für unbedenklich,
sich auf das andere Bett zu legen. Obwohl er erschöpft war, war er

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