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Zirkuskind

Zirkuskind

Titel: Zirkuskind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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noch nicht eingeschlafen,
als er den ersten Floh oder die erste Wanze spürte. Die Tierchen hüpften nicht wie
Flöhe, und zu sehen waren sie auch nicht; also waren es wahrscheinlich Wanzen. Offenbar
war Madhu daran gewöhnt – sie hatte sie gar nicht bemerkt.
    Farrokh beschloß,
daß er lieber versuchen würde, zwischen dem Vogelmist auf dem Balkon zu schlafen.
Vielleicht war es draußen so kühl, daß ihn die Moskitos in Ruhe lassen würden. Doch
als der Doktor auf den Balkon hinaustrat, stand auf dem Balkon daneben ein hellwacher
Martin Mills.
    [762]  »In meinem Bett
sind Millionen kleiner Viecher!« flüsterte der Missionar.
    »In meinem auch«,
entgegnete Farrokh.
    »Ich weiß nicht,
wie der Junge bei all dem Gekrabbel und Gebeiße schlafen kann!« sagte der Scholastiker.
    »Wahrscheinlich
gibt es hier eine Million weniger Viecher, als er aus Bombay gewöhnt ist«, meinte
Dr. Daruwalla.
    Die Dämmerung schob
sich über den Nachthimmel herauf; bald würde der Himmel dieselbe, an Tee mit Milch
erinnernde Farbe annehmen wie der Boden. Gegen diese graubraune Färbung stach das
Weiß der frischen Verbände des Missionars deutlich ab – seine wie in einem Fäustling
steckende Hand, sein eingewickelter Hals, sein verpflastertes Ohr.
    »Sie sind wirklich
ein schöner Anblick«, sagte der Doktor.
    »Da sollten Sie
sich erst selbst sehen«, entgegnete der Missionar. »Sie sehen aus, als hätten Sie
kein Auge zugetan.«
    Da die Kinder tief
und fest schliefen – und erst vor kurzem eingeschlafen waren –, beschlossen die
beiden Männer, sich in der Stadt umzusehen. Schließlich hatte Mr. Das ihnen nahegelegt,
ja nicht zu früh in den Zirkus zu kommen, um sie nicht beim morgendlichen Fernsehen
zu stören. Da es Sonntag war, nahm der Doktor an, daß auf allen Fernsehapparaten
in sämtlichen Wohnzelten das Mahabharata lief. Das beliebte Hindu-Epos wurde seit über einem Jahr jeden
Sonntagmorgen ausgestrahlt – insgesamt waren es dreiundneunzig Folgen von jeweils
einer Stunde, und die große Wanderung bis an die Pforten des Himmels (wo das Epos
endete) würde noch bis zum nächsten Sommer dauern. Es war die weltweit erfolgreichste
Seifenoper, in der Religion als Heldendrama dargestellt wurde. Eine erbauliche Legende
voller Moral und gespickt mit Zutaten wie Blindheit und unehelichen Kindern, Schlachten
und Frauenraub. Während der Sendezeit wurden Einbrüche in Rekordhöhe verübt, weil
die Diebe wußten, daß fast alle Inder vor dem [763]  Fernseher klebten. Der Missionar
würde von christlichem Neid verzehrt werden, dachte Dr. Daruwalla.
    Der muslimische
Junge in der Hotelhalle aß jetzt nicht mehr zu den Qawwali im Radio; die religiösen
Verse hatten ihn in den Schlaf gelullt. Es war nicht nötig, ihn aufzuwecken, da
in der Auffahrt des Staatlichen Gästehauses ein halbes Dutzend dreirädrige Rikschas
über Nacht geparkt hatten. Die Fahrer schliefen auf den Fahrgastsitzen. Nur einer
war wach und beendete gerade seine Gebete, als der Doktor und der Missionar ihn
anheuerten. So fuhren sie in der Rikscha durch die schlafende Stadt; ein solcher
Friede war in Bombay undenkbar.
    Neben dem Bahnhof
von Junagadh sahen sie einen gelben Schuppen, an dem sich mehrere Frühaufsteher
Fahrräder ausliehen. Sie kamen an einer Kokosnußplantage vorbei und entdeckten einen
Wegweiser zum Zoo, auf dem ein Leopard abgebildet war. Sie fuhren an einer Moschee
vorbei, einer Klinik, dem Hotel Relief, einem Gemüsemarkt und einer alten Festung;
sie sahen zwei Tempel, zwei Wasserbehälter, ein Mangowäldchen und sogar einen Affenbrotbaum
– was Martin Mills allerdings bezweifelte. Ihr Fahrer kutschierte sie zu dem Teakwald
am Fuß des Girnar Hill. Von hier aus müßten sie zu Fuß weitergehen, erklärte er
ihnen: zehntausend Steinstufen beziehungsweise sechshundert Höhenmeter; sie würden
dafür etwa zwei Stunden brauchen, meinte der Fahrer.
    »Wie kommt er um
Himmels willen auf die Idee, daß wir zwei Stunden lang zehntausend Stufen hinaufklettern
wollen?« fragte Martin den Doktor. Doch als Farrokh ihm erklärte, daß dieser Hügel
den Jainas heilig war, wollte der Jesuit unbedingt hinauf.
    »Oben gibt es nur
ein paar Tempel!« warnte ihn Dr. Daruwalla. Wahrscheinlich würde es nur so wimmeln
von Sadhus, die ihre Yogaübungen machten. Der ganze Weg würde mit unappetitlichen
Getränkeständen, Affen, die nach Essensresten suchten, [764]  und den abstoßenden Spuren
menschlicher Exkremente gesäumt sein. (Und über ihren Köpfen

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