Zirkuskind
Ich
habe gespürt, daß mir gezeigt worden ist, was ›an Christus glauben‹ bedeutet, jedenfalls
für mich. Selbst in der Dunkelheit, selbst während ich dasaß und damit rechnete,
daß mir gleich etwas Schreckliches widerfahren würde, hatte ich die Gewißheit, daß
er da war. Christus war für mich da. Er hatte mich nicht im Stich gelassen. Ich
konnte ihn noch immer sehen.«
»Vermutlich
kann ich den nötigen Gedankensprung nicht nachvollziehen«, sagte Dr. Daruwalla.
»Ich meine, Ihr Glaube an Christus ist eine Sache. Aber Priester werden zu wollen…
wie kamen Sie von Jesus auf dem Parkplatz zu dem Wunsch, Priester zu werden?«
»Na ja,
das ist etwas anderes«, gab Martin zu.
»Das ist
der Teil, den ich nicht kapiere«, entgegnete Farrokh. Dann sprach er es aus: »Und
was war das Ende all dieser Begierden? Ich meine, wurde Ihre Homosexualität je wieder
aktiviert, sozusagen?«
»Homosexualität?«
wiederholte der Jesuit. »Darum geht es nicht. Ich bin nicht homosexuell, und ich
bin auch nicht heterosexuell. Ich bin einfach kein sexuelles Wesen… nicht mehr.«
»Ach kommen
Sie«, sagte der Doktor. »Aber wenn Sie sich körperlich von einem Menschen angezogen
fühlen würden, dann doch von einem Mann, oder?«
»Darum
geht es nicht«, entgegnete der Scholastiker. »Es ist zwar nicht so, daß ich keine
sexuellen Empfindungen habe, [780] aber ich habe dieser Art von Anziehung widerstanden.
Es wird mir nicht schwerfallen, ihr auch weiterhin zu widerstehen.«
»Aber
Sie widerstehen doch einer homosexuellen Neigung, oder?« fragte Farrokh. »Ich meine,
lassen Sie uns mal spekulieren… spekulieren wird man doch noch dürfen, oder?«
»Ich spekuliere
nicht über den Inhalt meiner Gelübde«, sagte der Jesuit.
»Aber
– bitte haben Sie Nachsicht mit mir – wenn etwas geschehen würde, wenn Sie aus irgendeinem
Grund beschließen würden, doch nicht Priester zu werden, dann wären Sie doch homosexuell?«
fragte Dr. Daruwalla.
»Gnade!
Sie sind ein unglaublich hartnäckiger Mensch!« rief Martin Mills gutmütig.
»Ich soll
hartnäckig sein?« schrie der Doktor.
»Ich bin
weder homosexuell noch heterosexuell veranlagt«, stellte der Jesuit ruhig fest.
»Diese Begriffe beziehen sich nicht unbedingt auf Neigungen, oder? Ich hatte eine
vorübergehende Neigung.«
»Und sie
ist vorübergegangen. Vollständig. Wollen Sie das damit sagen?« fragte Dr. Daruwalla.
»Gnade«,
wiederholte Martin.
»Sie sind
aufgrund eines Erlebnisses mit einer Statue auf einem Parkplatz ein Mensch ohne
bestimmte Sexualität geworden, und trotzdem leugnen Sie die Möglichkeit, daß mich
ein Geist gebissen hat!« rief Dr. Daruwalla. »Richtig?«
»Ich glaube
grundsätzlich nicht an Geister«, entgegnete der Jesuit.
»Aber
Sie glauben daran, ein Einssein mit Jesus erlebt zu haben. Sie haben die Gegenwart
Gottes gespürt, auf einem Parkplatz!« schrie Farrokh.
»Ich glaube,
daß unsere Unterhaltung – vor allem, wenn Sie weiterhin so schreien – den Fahrer
ablenkt«, sagte Martin Mills. »Vielleicht sollten wir uns die Erörterung dieses [781] Themas aufsparen, bis wir wohlbehalten am Flugplatz angelangt sind.«
Sie waren
noch knapp eine Stunde von Rajkot entfernt, wobei Ramu immer wieder haarscharf am
Tod vorbeiraste. Am Flugplatz galt es dann die Warterei zu überstehen, ganz zu schweigen
von der Verzögerung, mit der man immer rechnen mußte, und schließlich den Flug selbst.
Die Taxifahrt von Santa Cruz nach Bombay dauerte an einem Sonntagnachmittag beziehungsweise
-abend gut und gern eine Dreiviertel- bis eine geschlagene Stunde. Dazu kam, daß
ein besonderer Sonntag war, der 31. Dezember 1989, aber weder dem Doktor noch dem
Missionar war bewußt, daß heute Silvester war – oder zumindest hatten sie es vergessen.
Am Neujahrstag
sollte die Jubiläumsfeier in St. Ignatius stattfinden, die Martin Mills ebenfalls
vergessen hatte; und die Silvesterparty im Duckworth Sports Club war eine todschickeAngelegenheit,
bei der es ungewohnt fröhlich zuging; mit Live-Orchester und einem grandiosen Mitternachtsbankett
– und vor allem dem exzellenten Champagner, der diesem einen Abend im Jahr vorbehalten
war. Kein Duckworthianer in Bombay versäumte freiwillig die Silvesterparty.
John D.
und Kommissar Patel waren überzeugt, daß Rahul dasein würde – Mr. Sethna hatte es
ihnen bereits mitgeteilt. Sie probierten einen Großteil des Tages, was Inspector
Dhar sagen sollte, wenn er mit der zweiten Mrs. Dogar tanzte. Julia hatte
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