Zirkuskind
schlechtgelaunten Tigern vorbei. Ihr draufgängerischer Fahrer strich
mit den Fingern an den Käfigstäben der Raubkatzen entlang. Ab und zu schnellte eine
Pranke heraus, aber souverän zog Ramu seine Hand jedesmal rechtzeitig zurück.
»Noch
eine Stunde bis zur Fleischfütterung«, sang Ramu den Löwen und Tigern zu. »Eine
ganze Stunde.«
Es war
schade, daß der Abschied vom Great Blue Nile von einem so höhnischen, wenn nicht
gar grausamen Unterton begleitet wurde. Dr. Daruwalla sah sich nur einmal nach der
sich entfernenden Gestalt des Elefantenjungen um, der zum Küchenzelt zurückhumpelte.
Sein unregelmäßiger Gang erweckte den Eindruck, als müßte die rechte Ferse das Gewicht
von zwei oder drei Jungen tragen; wie die Afterklaue eines Hundes oder einer Katze
berührten Ballen (und Zehen) seines rechten Fußes nie den Boden. Kein Wunder, daß
er über den Zelthimmel laufen wollte.
[775] Was
Farrokh und Martin betraf, so lag ihr Leben abermals in Ramus Händen. Die Fahrt
zum Flughafen von Rajkot erfolgte diesmal bei Tageslicht. Sowohl das Blutbad auf
der Schnellstraße als auch die Beinahezusammenstöße des Landrovers mit anderen Verkehrsteilnehmern
waren nicht mehr zu übersehen. Wieder wollte sich Dr. Daruwalla von Ramus Fahrkünsten
ablenken lassen, aber diesmal landete er unversehens auf dem Beifahrersitz, und
der hatte keinen Sicherheitsgurt. Martin klammerte sich an die Lehne des Vordersitzes
und schob seinen Kopf über Farrokhs Schulter, womit er Ramu wahrscheinlich jede
Sicht im Rückspiegel nahm – nicht daß Ramu das, was möglicherweise von hinten kam,
auch nur eines Blickes gewürdigt oder irgendein anderes Fahrzeug ihn eingeholt hätte.
Da Junagadh
der Ausgangspunkt für Besuche im Gir-Wald war, der letzten Heimat des asiatischen
Löwen, wollte Ramu wissen, ob sie den Wald gesehen hätten – hatten sie nicht –,
und Martin Mills wollte wissen, was Ramu, der kein Englisch sprach, gesagt hatte.
Auf die Dauer wurde dem Doktor die ewige Übersetzerei lästig, obwohl er sich redlich
Mühe gab. Der Missionar bedauerte, die Löwen von Gir nicht gesehen zu haben. Vielleicht
konnten sie sich den Wald ja ansehen, wenn sie wieder herkamen, um die Kinder zu
besuchen. Aber bis dahin gastierte der Great Blue Nile sicher längst in einer anderen
Stadt. Von Ramu erfuhren sie, daß es im Stadtzoo auch ein paar asiatische Löwen
gab. Sie könnten sich die Tiere ja kurz ansehen; ihr Flugzeug in Rajkot würden sie
trotzdem noch erreichen. Aber Farrokh lehnte diesen Vorschlag klugerweise ab, weil
er wußte, daß jede Verzögerung ihrer Abfahrt von Junagadh nur dazu führen würde,
daß Ramu um so schneller nach Rajkot donnern würde.
Auch das
Gespräch über Graham Greene lenkte Farrokh nicht so ab, wie er gehofft hatte. Martins
»katholische Interpretation« des Romans Das Herz aller Dinge entsprach ganz und gar nicht dem,
was der Doktor erwartet hatte; er fand sie [776] ausgesprochen ärgerlich. Nicht einmal
ein Roman, in dem es so grundlegend um den Glauben geht wie in Die Macht und
die Herrlichkeit, dürfe unter einem streng »katholischen« Blickwinkel diskutiert werden, argumentierte
Dr. Daruwalla. Er zitierte aus dem Gedächtnis eine Stelle, die er besonders gern
mochte. »In der Kindheit gibt es stets einen Augenblick, in dem sich eine Tür auftut
und die Zukunft hereinläßt.«
»Vielleicht
sagen Sie mir, was daran so besonders katholisch sein soll«, forderte der Doktor
den Scholastiker heraus, aber der wechselte geschickt das Thema.
»Lassen
Sie uns beten, daß sich für unsere Kinder diese Tür im Zirkus auftut und die Zukunft
hereinläßt«, sagte der Jesuit. Was für ein hinterlistiger Kerl!
Farrokh
wagte es nicht, Martin noch irgend etwas über seine Mutter zu fragen, denn nicht
einmal Ramus Fahrweise war so abschreckend wie die Aussicht, sich noch eine Geschichte
über Vera anhören zu müssen. Dafür hätte Farrokh gern mehr über die homosexuellen
Neigungen von Dhars eineiigem Zwilling erfahren. In erster Linie war er neugierig,
ob John D. dieselbe Veranlagung besaß, wußte aber nicht recht, wie er dessen Zwillingsbruder
auf dieses Thema bringen sollte. Allerdings würde sich mit Martin leichter darüber
reden lassen als mit John D.
»Sie haben
gesagt, daß Sie in einen Mann verliebt waren und daß Ihre Gefühle für ihn letzten
Endes nachgelassen haben«, begann der Doktor.
»Das stimmt«,
sagte der Scholastiker steif.
»Aber
können Sie den Zeitpunkt oder das Ereignis
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