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Zirkuskind

Zirkuskind

Titel: Zirkuskind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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Farrokhs
Smoking gebügelt, der auf dem Balkon erst gründlich ausgelüftet werden mußte, um
den Mottenkugelduft loszuwerden. Aber die Gedanken des Doktors waren weit vom Silvesterabend
und vom Duckworth Club entfernt. Er konzentrierte sich ganz auf die restliche Fahrt
nach Rajkot; danach stand ihm dann noch der ganze Weg nach Bombay bevor. Und da
er Martins Spitzfindigkeiten nicht länger ertragen konnte, mußte er sich eben ein
anderes Gesprächsthema einfallen lassen.
    [782]  »Vielleicht
sollten wir das Thema wechseln«, schlug Dr. Daruwalla vor. »Und uns leise unterhalten.«
    »Wie Sie
wünschen. Ich werde bestimmt nicht schreien«, versprach der Missionar.
    Doch Farrokh
wollte partout nichts einfallen, worüber sie sonst hätten reden können. Er versuchte
sich an eine lange Geschichte aus seinem Leben zu erinnern, die er endlos ausspinnen
könnte und die den Missionar vorübergehend zum Schweigen brächte. Ein möglicher
Anfang wäre doch zum Beispiel: »Ich kenne Ihren Zwillingsbruder.« Daraus würde sich
eine ziemlich lange persönliche Geschichte ergeben. Und die würde Martin Mills bestimmt
die Sprache verschlagen! Doch wieder einmal hatte Farrokh das Gefühl, daß er nicht
das Recht hatte, diese Geschichte zu erzählen. Diese Entscheidung lag allein bei
John D.
    »Also,
mir fiele schon etwas ein«, sagte der Scholastiker. Er hatte höflich darauf gewartet,
daß Dr. Daruwalla den Anfang machte, allerdings nicht besonders lange.
    »Na gut,
schießen Sie los«, sagte der Doktor.
    »Ich finde,
Sie sollten keine Hexenjagd auf Homosexuelle veranstalten«, fing der Jesuit an.
»Doch nicht in unserer Zeit. Doch nicht, nachdem eine verständliche Empfindlichkeit
gegenüber allem besteht, was im weitesten Sinn als Homophobie ausgelegt werden kann.
Was haben Sie überhaupt gegen Homosexuelle?«
    »Ich habe
nichts gegen Homosexuelle. Ich leide auch nicht unter Homophobie«, fuhr Dr. Daruwalla
ihn an. »Und Sie haben nicht unbedingt das Thema gewechselt!«
    »Und Sie
reden nicht gerade leise«, konterte Martin.
    [783]  Little India
    Die Überprüfung
der Lautsprecheranlage am Flughafen von Rajkot hatte ein neues Stadium erreicht;
jetzt wurden anspruchsvollere Kenntnisse beim Zählen unter Beweis gestellt. »Elf,
zweiundzwanzig, dreiunddreißig, vierundvierzig, fünfundfünfzig«, sagte die unermüdliche
Stimme. Wohin das führen würde, ließ sich nicht feststellen; es hörte sich nach
Unendlichkeit an. Die Stimme war völlig emotionslos und zählte so mechanisch, daß
Dr. Daruwalla verrückt zu werden meinte, wenn das nicht bald aufhörte. Statt sich
die Zählerei oder Martin Mills’ jesuitische Provokationen anzuhören, beschloß Farrokh,
eine Geschichte zu erzählen. Obwohl es eine wahre Geschichte war – und es ihn, wie
er bald feststellen sollte, schmerzte, sie zu erzählen –, hatte sie den Nachteil,
daß er sie noch nie erzählt hatte; selbst wahre Geschichten werden durch wiederholtes
Erzählen besser. Aber der Doktor hoffte, sie würde deutlich machen, wie sehr sich
der Missionar irrte, wenn er ihm Menschenfeindlichkeit oder Berührungsängste mit
Homosexuellen unterstellte, denn Dr. Daruwallas liebster Kollege in Toronto, Gordon
Macfarlane, war homosexuell. Und außerdem war er Farrokhs bester Freund.
    Leider
begann der Drehbuchautor mit seiner Geschichte an der falschen Stelle. Er hätte
bei seiner ersten Begegnung mit Dr. Macfarlane anfangen sollen, bei der sich die
beiden über die Problematik des Wortes ›schwul‹ einig gewesen waren. Auch den Erkenntnissen
von Macs Freund, dem schwulen Genetiker Duncan Frasier, über die biologischen Voraussetzungen
der Homosexualität stimmten beide im großen und ganzen zu. Hätte Dr. Daruwalla dieses
Thema zuerst angeschnitten, hätte er Martin Mills vielleicht nicht gleich gegen
sich eingenommen. Doch auf dem Flughafen von Rajkot beging er den Fehler, Dr. Macfarlane
in Form einer Rückblende einzuführen – als wäre Mac nur eine Nebenfigur und nicht
ein Freund, an den Farrokh oft und gern dachte.
    [784]  Er
hatte mit der falschen Episode angefangen, jener Begebenheit, bei der ihm ein verrückter
Taxifahrer übel mitgespielt hatte, weil er durch seine Arbeit als Autor von Actionfilmen
darauf trainiert war, jede Geschichte mit der gewaltsamsten Szene zu beginnen, die
er sich vorstellen (oder an die er sich, in diesem Fall, erinnern) konnte. Doch
daß er mit einem rassistisch motivierten Angriff auf seine Person begann, war für
den Missionar

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