Zirkuskind
ebenso kräftig. Sie erinnerten ihn unangenehm an die Hände
der zweiten Mrs. Dogar, die, als er sie das letzte Mal gesehen hatte, unruhig am
Tischtuch herumgezupft hatten und ihm vorgekommen waren wie Pranken. »Beim Deckenlauf
kann einen nicht einmal Shridi Sai Baba vor dem Fallen schützen«, sagte Mrs. Bhagwan
zu Ganesh.
»Was schützt
Sie dann?« fragte der Junge.
Mrs. Bhagwan
zeigte ihm ihre Füße unter dem bodenlangen Sari; sie waren nackt und wirkten eigenartig
graziös, ja geradezu zierlich im Vergleich zu ihren Händen. Aber der ganze Rist
bis hinauf zum Sprunggelenk war an beiden Füßen so abgescheuert, daß keine normale
Haut mehr vorhanden war. An ihrer Stelle befand sich verhärtetes Narbengewebe, faltig
und rissig.
»Fühl
mal«, sagte Mrs. Bhagwan zu dem Jungen. »Sie auch«, forderte sie den Doktor auf,
der prompt gehorchte. Er hatte noch nie einen Elefanten oder ein Rhinozeros berührt,
sondern sich höchstens vorgestellt, wie sich die zähe, ledrige Haut anfühlen würde.
Es gab doch sicher eine Salbe oder Lotion, überlegte der Doktor, die Mrs. Bhagwan
auf ihre zerschundenen Füße auftragen konnte, damit die Risse in der verhärteten
Haut heilten. Doch dann fiel ihm ein, daß sich dort, wo die Risse geheilt waren,
eine zu dicke Hornhautschicht bilden würde, als daß das Scheuern der Seilschlingen
an den Füßen noch zu spüren wäre. Auch wenn ihr die rissige Haut Schmerzen verursachte,
war der Schmerz doch zugleich der Indikator dafür, daß sich ihre Füße sicher in
den Schlingen befanden – genau an der richtigen Stelle. Ohne den Schmerz hätte sich
Mrs. Bhagwan ausschließlich auf ihre Augen verlassen müssen, und wenn es darum ging,
die Füße sicher in die Schlaufen zu stecken, waren zwei Arten der Wahrnehmung (Schmerz
und Sehvermögen) wahrscheinlich besser als eine.
Ganesh
schien sich vom Anblick und der rauhen [773] Beschaffenheit von Mrs. Bhagwans Füßen
nicht entmutigen zu lassen. Seine Augen heilten allmählich – sie wurden von Tag
zu Tag klarer –, und auf seinem wachsamen Gesicht lag ein Strahlen, das seinen ungebrochenen
Glauben an die Zukunft widerspiegelte. Er wußte, daß er den Deckenlauf schaffen
konnte. Ein Fuß war bereit anzufangen; jetzt mußte nur noch der andere mitmachen.
Jesus auf dem Parkplatz
Unterdessen
hatte der Missionar bei den Schimpansenkäfigen ein heilloses Durcheinander angerichtet.
Gautam bekam einen Tobsuchtsanfall, sobald er ihn erblickte, denn Martins Verbände
waren noch weißer als seine Haut. Und dann mußte die kokette Mira auch noch ihre
langen Arme durch die Gitterstäbe ihres Käfigs strecken, als würde sie den Jesuiten
anflehen, sie zu umarmen, worauf Gautam seinem vermeintlichen Rivalen in sattem
Strahl vor die Füße pinkelte. Der Missionar wollte von der Bildfläche verschwinden,
um den Schimpansen nicht noch mehr zu reizen und weitere Affentänze zu verhindern,
doch Kunal bestand darauf, daß er blieb. Das sei eine wichtige Lektion für Gautam,
argumentierte er: Je aggressiver der Affe auf die Anwesenheit des Jesuiten reagierte,
um so mehr Schläge bekam er von Kunal. Martin sah die Logik dieser Erziehungsmethode
zwar nicht ganz ein, gehorchte aber den Anweisungen des Dresseurs.
In Gautams
Käfig befand sich ein alter Autoreifen mit abgefahrenem Profil, der an einem fransigen
Seil hing. In seinem Zorn schleuderte Gautam den Reifen gegen die Gitterstäbe, dann
packte er ihn und bohrte seine Zähne in den Gummi. Daraufhin schob Kunal einen Bambusstecken
durch die Stäbe und stieß ihn Gautam in die Seite. Mira rollte sich auf den Rücken.
Als Dr.
Daruwalla den Missionar endlich fand, stand dieser [774] hilflos vor diesem Affendrama
und machte ein so schuldbewußtes Gesicht wie ein ertappter Straftäter.
»Um Himmels
willen, was stehen Sie denn da herum?« fragte ihn der Doktor. »Wenn Sie einfach
weggehen würden, hätte das ganze Theater ein Ende!«
»Das denke
ich ja auch«, entgegnete der Jesuit. »Aber der Dresseur hat gesagt, ich soll dableiben.«
»Ist er
Ihr Dresseur oder der des Schimpansen?« fragte Farrokh.
So kam
es, daß sich der Missionar, begleitet vom wüsten Gekreisch und Geheul des rassistischen
Affen, von Ganesh verabschiedete. Man konnte sich nur schwer vorstellen, daß Gautam
daraus etwas lernte.
Die beiden
Männer gingen hinter Ramu her zum Landrover. Auf dem Weg dorthin kamen sie noch
an einigen Raubtierkäfigen mit schläfrigen, mißmutigen Löwen und ebenso lustlosen
und sichtlich
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