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Zirkuskind

Zirkuskind

Titel: Zirkuskind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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– und ihm, ohne Rücksicht auf
die Uhrzeit, sofort Bescheid geben.
    Dhar hatte
Detective Patel in der Herrentoilette gesagt, er habe keineswegs den Eindruck gehabt,
daß es Rahuls Absicht gewesen sei, ihm die Lippe abzubeißen, ja daß es nicht einmal
ein vorsätzlicher Entschluß gewesen sei, seine Lippe mit den Zähnen festzuhalten
– und daß sie ihm damit auch keine Angst habe einjagen wollen. Vielmehr glaubte
der Schauspieler, daß sie sich einfach nicht beherrschen konnte; und während sie
seine Lippe festhielt, hatte er die ganze Zeit das Gefühl gehabt, daß sie ihn einfach
nicht loslassen konnte.
    »Ich hatte
nicht den Eindruck, daß sie mich wirklich beißen wollte«, hatte Dhar dem Detective
erklärt. »Es kam mir eher so vor, als könnte sie nicht anders.«
    »Ja, ich
verstehe«, hatte der Polizist gesagt. Er hatte der Versuchung widerstanden hinzuzufügen,
daß nur im Film jeder Mörder ein einleuchtendes Motiv hatte.
    Als er
jetzt den Telefonhörer auflegte, drang ein trübseliges Lied zu ihm in die Eingangshalle
heraus. Die Kapelle spielte »Auld Lang Syne«, und die angetrunkenen Duckworthianer
sangen mit und verhunzten den Text. Patel hatte Mühe, den Speisesaal zu durchqueren,
weil so viele gefühlsduselige Clubmitglieder ihre Tische verließen und singend in
den Ballsaal taumelten. Da kam Mr. Bannerjee, eingeklemmt zwischen seiner Frau und
der Witwe Lal; er wirkte mannhaft entschlossen, mit beiden zu tanzen. Und dort kamen
Dr. und Mrs. Sorabjee, die die junge Amy allein am Tisch zurückgelassen hatten.
    Als der
Detective an den Tisch der Daruwallas zurückkehrte, redete Nancy auf Dhar ein. »Ich
bin sicher, daß die Kleine es kaum erwarten kann, noch mal mit Ihnen zu tanzen.
Sie sitzt ganz allein da. Warum fordern Sie sie nicht auf? Stellen Sie sich [834]  doch
vor, wie ihr zumute ist. Sie haben damit angefangen«, sagte Nancy. Nach Schätzung
ihres Mannes hatte sie drei Gläser Champagner getrunken; das war nicht viel, aber
Nancy trank sonst nie – und gegessen hatte sie so gut wie gar nichts. Dhar brachte
es fertig, nicht höhnisch zu lächeln; statt dessen versuchte er, Nancy zu ignorieren.
    »Wie wär’s,
wenn du mich zum Tanzen auffordern würdest?«
fragte Julia John D. »Ich glaube, Farrokh hat mich ganz vergessen.«
    Wortlos
geleitete Dhar Julia in den Ballsaal. Amy Sorabjee ließ die beiden nicht aus den
Augen.
    »Ihre
Idee mit der Kugelschreiberkappe gefällt mir«, sagte Detective Patel zu Dr. Daruwalla.
    Der Drehbuchautor
war verblüfft über dieses unerwartete Kompliment.
    »Wirklich?«
sagte Farrokh. »Das Problem ist, daß Mrs. Dogar glauben muß, daß sie immer in ihrer
Handtasche war, die ganze Zeit.«
    »Ich gebe
zu, daß Mr. Sethna das Ding hineinschmuggeln kann, falls es Dhar gelingt, die Dame
abzulenken.« Mehr sagte der Polizist nicht dazu.
    »Wirklich?«
wiederholte Dr. Daruwalla.
    »Natürlich
wäre es schön, wenn wir in ihrer Tasche noch andere Sachen finden würden«, dachte
der Kommissar laut.
    »Sie meinen
Geldscheine mit getippten Drohungen… oder vielleicht sogar eine Zeichnung«, sagte
der Doktor.
    »Genau«,
sagte Patel.
    »Also,
ich wünschte, ich könnte so etwas schreiben!« entgegnete der Drehbuchautor.
    Plötzlich
war Julia wieder am Tisch; sie hatte ihren Tanzpartner an Amy Sorabjee verloren,
die John D. abgeklatscht hatte.
    »Unverschämtes
Gör!« sagte Dr. Daruwalla.
    »Komm,
tanz du mit mir, Liebchen«, sagte Julia zu ihm.
    [835]  Jetzt
saßen die Patels allein am Tisch; sie waren sogar allein im Ladies’ Garden. Im großen
Speisesaal war ein Mann mit dem Kopf auf dem Tisch eingeschlafen, alle anderen tanzten
oder standen im Ballsaal herum – offenbar um das schauerliche Vergnügen zu genießen,
»Auld Lang Syne« zu singen. Die Kellner begannen die verlassenen Tische abzuräumen,
aber keiner von ihnen störte Detective Patel und Nancy im Ladies’ Garden, da Mr.
Sethna sie angewiesen hatte, die traute Zweisamkeit des Ehepaars zu respektieren.
    Nancys
hochgesteckte Haare hatten sich gelöst, und sie bemühte sich vergeblich, den Verschluß
der Perlenkette aufzubekommen; ihr Mann mußte ihr helfen.
    »Das sind
herrliche Perlen, findest du nicht?« fragte Nancy. »Aber wenn ich sie Mrs. Daruwalla
nicht gleich zurückgebe, vergesse ich es noch und nehme sie mit nach Hause. Dort
könnten sie verlorengehen oder gestohlen werden.«
    »Ich werde
versuchen, dir so eine Kette zu besorgen«, sagte Detective Patel.
    »Nein,
die ist viel zu teuer«,

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