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Zirkuskind

Zirkuskind

Titel: Zirkuskind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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aber keinerlei
Anspannung in Mrs. Dogars Oberschenkeln, die unter dem Tisch sanft gegen seine Hand
drückten.
    »Ich muß im Schlaf
an Sie gedacht haben«, sagte sie verträumt. Als sie die Augen schloß, schillerten
ihre Augenlider silbergrün wie eine Eidechse; als sie den Mund leicht öffnete, waren
ihre langen Zähne feucht und glänzend, und ihr warmes Zahnfleisch hatte die Farbe
von starkem Tee.
    Bei ihrem Anblick
begann John D.s Lippe zu pochen, aber er drückte seine Handfläche weiterhin an die
Innenseite ihres Schenkels. Dieser Teil des Drehbuchs war ihm zuwider. Plötzlich
sagte er: »Haben Sie mir aufgezeichnet, was Sie gern [865]  mögen?« Er spürte, wie die
Muskeln ihrer beiden Oberschenkel seine Hand einklemmten – ihr Mund war ebenfalls
fest geschlossen; dann machte sie die Augen weit auf und richtete den Blick auf
seine Lippe.
    »Sie können nicht
von mir erwarten, daß ich es Ihnen hier zeige«, sagte Mrs. Dogar.
    »Nur einen kurzen
Blick«, bettelte John D. »Sonst wird mir das Essen gar zu lang.«
    Hätte sich Mr. Sethna
durch vulgäres Benehmen nicht so leicht gekränkt gefühlt, wäre er im siebten Lauscherhimmel
geschwebt; doch der Butler bebte vor Mißbilligung und Verantwortungsgefühl. Er empfand
diesen Augenblick als recht ungeeignet, um die Speisekarten zu bringen, wußte aber,
daß er sich in der Nähe der Handtasche aufhalten mußte.
    »Es ist widerlich,
wieviel die Leute essen. Ich hasse diese Fresserei«, sagte Mrs. Dogar. Dhar spürte,
wie ihre Schenkel erschlafften, so als wäre ihre Konzentrationsspanne kürzer als
bei einem Kind – als würde sie, aus keinem triftigeren Grund als der bloßen Erwähnung
von Essen, jedes erotische Interesse verlieren.
    »Wir brauchen überhaupt
nicht zu essen… wir haben noch nichts bestellt«, meinte Dhar. »Wir könnten einfach
gehen, jetzt gleich«, schlug er vor, war aber, während er sprach, darauf gefaßt,
sie (falls nötig) mit der linken Hand auf dem Stuhl festzuhalten. Der Gedanke, mit
ihr in einer Suite im Oberoi Towers oder im Taj Mahal allein zu sein, hätte John
D. angst gemacht, doch er wußte genau, daß Detective Patel auf keinen Fall zulassen
würde, daß Rahul den Duckworth Club verließ. Aber Mrs. Dogar war beinahe kräftig
genug, um trotz des Drucks, den Dhars Hand auf sie ausübte, aufzustehen. »Nur ein
Bild«, bat er sie flehentlich. »Zeigen Sie mir nur irgend etwas.«
    Rahul atmete flach
durch die Nase. »Ich bin zu gut gelaunt, um böse mit Ihnen zu werden«, sagte sie
zu ihm. »Aber Sie sind ein ganz schlimmer Junge.«
    [866]  »Zeigen Sie mir
etwas«, bat Dhar. An ihren Schenkeln glaubte er jenes unwillkürliche Beben zu spüren,
das man auch an Pferdeflanken beobachten kann. Als sie die Hand nach ihrer Tasche
ausstreckte, hob John D. den Blick zu Mr. Sethna, der jedoch offenbar Lampenfieber
hatte; mit einer Hand umklammerte er die Speisekarten, mit der anderen sein silbernes
Serviertablett. Wie konnte der alte Esel Mrs. Dogars Handtasche umkippen, wenn er
keine Hand frei hatte? fragte sich John D.
    Rahul nahm die Tasche
auf den Schoß; ihr Boden streifte kurz über Dhars Handgelenk. Sie enthielt mehr
als eine Zeichnung, und Mrs. Dogar zögerte sichtlich, bevor sie alle drei herausholte.
Aber sie zeigte sie ihm noch nicht, sondern deckte sie mit der rechten Hand zu,
während sie mit der linken ihre Tasche wieder auf den freien Stuhl legte. Und in
dem Augenblick stürzte sich Mr. Sethna ins Geschehen. Er ließ das Serviertablett
fallen, dessen helles Scheppern vom Steinboden des Speisesaals widerhallte. Dann
trat er darauf – wie es aussah, stolperte er darüber –, und die Speisekarten flogen
ihm aus der Hand und in Mrs. Dogars Schoß. Instinktiv fing sie sie auf, während
der alte Parse an ihr vorbeistolperte und mit dem entscheidenden Stuhl zusammenrumpelte.
Die Tasche flog auf den Boden, doch ohne sich zu entleeren – bis Mr. Sethna täppisch
versuchte, sie aufzuheben; dann lag ihr Inhalt überall verstreut. Von den drei Zeichnungen,
die Rahul unbewacht auf dem Tisch hatte liegenlassen, konnte John D. nur die oberste
sehen. Das genügte.
    Die Frau auf dem
Bild hatte eine verblüffende Ähnlichkeit mit Mrs. Dogar, wie sie als junges Mädchen
ausgesehen haben mochte. Rahul war genaugenommen nie ein junges Mädchen gewesen,
aber dieses Porträt erinnerte John D. daran, wie sie vor zwanzig Jahren in Goa ausgesehen
hatte. Sie wurde von einem Elefanten bestiegen, der jedoch zwei Rüssel hatte. Der
erste – er

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