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Zirkuskind

Zirkuskind

Titel: Zirkuskind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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stand nach oben weg, als würde er aus dem Handrücken wachsen;
er war am Grundgelenk ausgerenkt. Mit der linken Hand gelang es Dhar, die Zeichnungen
Mrs. Dogars Zugriff zu entziehen. Sie rang noch immer mit ihm – sie versuchte ihm
die Zeichnungen mit der rechten Hand wegzunehmen –, als ihr Detective Patel von
hinten einen Arm unters Kinn schob und ihren linken Arm hinter die Stuhllehne bog.
    »Sie sind verhaftet«,
erklärte ihr der Kommissar.
    »Die obere Hälfte
des Stifts ist eine Geldklammer«, sagte Inspector Dhar. »Sie benützt sie für kleine
Scheine. Als sie den Schein in Mr. Lals Mund gesteckt hat, muß die provisorische
Klammer neben die Leiche gefallen sein… den Rest wissen Sie. Auf diesen Zwei-Rupien-Scheinen
steht etwas«, berichtete Dhar dem echten Polizisten.
    »Lesen Sie es mir
vor«, sagte Patel. Mrs. Dogar verhielt sich absolut still. Ihre freie rechte Hand,
die aufgehört hatte, mit John D. um die Zeichnungen zu ringen, schwebte unmittelbar
über dem Tischtuch, als wollte sie allen ihren Segen erteilen.
    »›Kein Mitglied
mehr‹«, las Dhar laut vor.
    »Der war für Sie«,
sagte der Kommissar zu ihm.
    »›…weil Dhar noch
Mitglied ist‹«, las Dhar.
    »Für wen war der«,
fragte der Kriminalbeamte Rahul, aber Mrs. Dogar saß wie erstarrt auf ihrem Stuhl,
während ihre Hand [870]  noch immer ein imaginäres Orchester über dem Tischtuch dirigierte.
Sie hatte Inspector Dhar keine Sekunde aus den Augen gelassen. Die oberste Zeichnung
war bei dem Gerangel zerknittert worden, aber John D. strich alle drei Zeichnungen
auf der Tischdecke glatt, wobei er sich große Mühe gab, sie nicht anzusehen.
    »Sie sind eine echte
Künstlerin«, sagte der Kommissar zu Rahul, aber Mrs. Dogar starrte weiterhin nur
Inspector Dhar an.
    Dr. Daruwalla bedauerte
es, einen Blick auf die Zeichnungen geworfen zu haben; die zweite war schlimmer
als die erste, und die dritte war die allerschlimmste. Er wußte, daß er bis ins
Grab daran denken würde. Einzig und allein Julia war so vernünftig gewesen, im Ladies’
Garden zu bleiben; sie wußte, daß es keinen Grund gab, sich das Ganze aus der Nähe
anzusehen. Nancy hingegen verspürte offenbar den Zwang, der Teufelin persönlich
gegenüberzutreten. Später war es ihr unangenehm, sich an die letzten Worte zwischen
Dhar und Rahul zu erinnern.
    »Ich habe Sie wirklich
begehrt, ich habe keinen Spaß gemacht«, sagte Mrs. Dogar zu dem Schauspieler.
    Zu Dr. Daruwallas
Überraschung sagte John D. zu Mrs. Dogar: »Ich habe auch keinen Spaß gemacht.«
    Für Nancy war es
sicher bitter, daß sich das Augenmerk der anderen trotz ihrer Opferrolle so weit
von ihr weg verlagert hatte. Es wurmte sie noch immer, daß sich Rahul nicht mehr
an sie erinnerte.
    »Ich war in Goa«,
verkündete Nancy der Mörderin.
    »Sag nichts, Herzchen«
riet ihr ihr Mann.
    »Sag alles, was
dir auf der Seele liegt, Herzchen», forderte Rahul sie auf.
    »Ich hatte Fieber,
und Sie sind zu mir ins Bett gekrochen«, sagte Nancy.
    Mrs. Dogar wirkte
überrascht und nachdenklich. Sie starrte Nancy an, wie sie zuvor die Stiftkappe
angestarrt hatte, während ihre Erinnerung die vielen Jahre zurückwanderte. »Nein
so [871]  was, sind Sie es wirklich, meine Liebe?« fragte Rahul Nancy. »Aber was um
Himmels willen ist mit Ihnen geschehen?«
    »Sie hätten die
Gelegenheit nutzen und mich umbringen sollen«, sagte Nancy.
    »Für mich sehen
Sie bereits tot aus«, entgegnete Mrs. Dogar.
    »Bitte, Vijay, erschieße
sie«, sagte Nancy zu ihrem Mann.
    »Ich habe dir doch
gesagt, Herzchen, daß es nicht sonderlich befriedigend sein würde.« Mehr sagte der
Kommissar nicht.
    Als die uniformierten
Wachtmeister und Unterinspektoren kamen, forderte Detective Patel sie auf, ihre
Waffen wegzustecken, da Rahul sich der Verhaftung nicht widersetzte. Sie strahlte
eine tiefe und unergründliche Befriedigung über den Mord in der letzten Nacht aus.
Ihre Gewalttätigkeit an diesem Neujahrsmontag beschränkte sich auf den wie auch
immer gearteten, kurzen Impuls, der sie dazu getrieben hatte, John D. den kleinen
Finger zu brechen. Das Lächeln der Massenmörderin war heiter.
    Verständlicherweise
war der Kommissar besorgt um seine Frau. Er erklärte ihr, er müsse auf direktem
Weg ins Kriminalkommissariat, aber bestimmt würde jemand sie nach Hause begleiten.
Dhars zwergwüchsiger Chauffeur hatte seine Anwesenheit bereits kundgetan; er drückte
sich in der Eingangshalle des Duckworth Club herum. Detective Patel meinte,

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