Zirkuskind
Haufen befand sich ein
Verkaufsstand, an dem irgendein Zeug feilgeboten wurde, dessen Zweck sich Martin
Mills nicht erklären konnte. Es war ein kräftig scharlachrotes Pulver, aber der
Missionar bezweifelte, daß es sich um ein Gewürz oder sonst etwas Eßbares handelte.
Etwas davon lag verschüttet im Rinnstein, wo die leuchtendroten Partikel sowohl
den Huf der Kuh als auch den Kothaufen bedeckten.
Das war
Martin Mills’ indischer Mikrokosmos: das tödlich verwundete Tier, das religiöse
Ritual, die ewigen Fliegen, die unglaublich leuchtenden Farben, das selbstverständliche [860] Vorhandensein menschlicher Scheiße – und natürlich die verwirrenden Gerüche.
Man hatte den Missionar vorgewarnt: Wenn er über solches Elend nicht hinwegsehen
konnte, würde er für St. Ignatius – und jede andere Missionsstation auf der Welt
– kaum von Nutzen sein. Aufgewühlt fragte er sich, ob er die Kraft aufbringen würde,
Priester zu werden. Im Augenblick war er in einer so anfälligen geistigen Verfassung,
daß er von Glück sagen konnte, daß ihn die Nachricht, die Madhu betraf, erst am
nächsten Tag erreichen sollte.
Bring mich nach Hause!
Im Duckworth
Club schien die Mittagssonne auf den Laubengang des Ladies’ Garden. Die Bougainvilleen
standen so dicht, daß die Sonne wie durch Einstichlöcher zwischen den Blüten hindurchfiel
und helle Lichtperlen die Tischtücher sprenkelten wie verschüttete Diamanten. Nancy
ließ ihre Hände unter den nadelfeinen Strahlen hindurchgleiten. Sie spielte mit
der Sonne, versuchte ihr Licht mit dem Ehering aufzufangen, als Detective Patel
zu ihr sagte: »Du muß nicht hierbleiben, Herzchen. Du kannst wirklich nach Hause
gehen.«
»Ich will
aber hierbleiben«, erklärte Nancy.
»Ich wollte
dich nur warnen. Du darfst nicht erwarten, daß das recht befriedigend wird«, sagte
der Kommissar. »Selbst wenn man sie erwischt, ist es irgendwie nie ganz befriedigend.«
Dr. Daruwalla,
der ständig auf die Uhr schaute, bemerkte: »Sie kommt zu spät.«
»Sie kommen
beide zu spät«, sagte Nancy.
»Dhar
soll ja zu spät kommen«, erinnerte ihr Mann sie.
Dhar wartete bereits
in der Küche. Sobald die zweite Mrs. Dogar eintraf, würde Mr. Sethna sie genau beobachten;
und wenn er feststellte, daß ihre Verärgerung in Zorn umschlug, [861] würde er Dhar
an ihren
Tisch schicken. Dr. Daruwalla ging von der Überlegung aus, daß Rahul in seiner Erregtheit
überstürzt handeln würde.
Doch als sie eintraf,
war sie kaum wiederzuerkennen. Sie trug das, was man im Westen allgemein als »das
kleine Schwarze« bezeichnet. Das Kleid war kurz, leicht ausgestellt, mit tief sitzender
Taille, die Rahul noch schmaler erscheinen ließ. Die kleinen, hohen Brüste kamen
vorteilhaft zur Geltung. Dazu einen schwarzen Leinenblazer, und sie hätte fast wie
eine Geschäftsfrau ausgesehen, überlegte Dr. Daruwalla. Ohne Jacke eignete sich
das Kleid jedoch eher für eine Cocktailparty in Toronto. Es war ärmellos und hatte
Spaghettiträger, als legte Rahul es bewußt darauf an, bei den Duckworthianern Anstoß
zu erregen. Die Muskeln ihrer nackten Schultern und Oberarme traten deutlich hervor,
von dem breiten Brustkorb ganz zu schweigen. Für Farrokhs Geschmack war Rahul zu
muskulös für ein solches Kleid. Dann fiel ihm ein, daß sie wohl annahm, Dhar würde
das gefallen.
Mrs. Dogar bewegte
sich so, als wäre ihr absolut nicht bewußt, daß sie eine auffallend große kräftige
Frau war. Beim Betreten des Speisesaals wirkte sie nicht im mindesten aggressiv,
sondern eher schüchtern und mädchenhaft. Statt zielstrebig auf ihren Tisch zuzusteuern,
gestattete sie dem alten Mr. Sethna, ihr den Arm zu reichen und sie hinzugeleiten
– Dr. Daruwalla hatte sie noch nie so erlebt. Das war keine Frau, die mit dem Löffel
oder der Gabel an ihr Wasserglas klopfte; das hier war eine ausgesprochen feminine
Frau, die lieber an ihrem Platz verhungern würde, als auf ungeziemende Weise Aufmerksamkeit
zu erregen. Sie würde lächelnd dasitzen und auf Dhar warten, bis der Club schloß
und jemand sie nach Hause schickte. Offenbar war Detective Patel auf diese Veränderung
vorbereitet, weil er sich, kaum daß Mrs. Dogar an ihrem Tisch Platz genommen hatte,
rasch an den Drehbuchautor wandte.
[862] »Machen Sie sich
nicht die Mühe, sie warten zu lassen«, sagte der Kriminalbeamte. «Sie ist heute
eine andere Frau.«
Farrokh gab Mr.
Sethna einen Wink – er sollte John D. »eintreffen« lassen –, während der
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