Zirkuskind
Liebe machen, was im Klartext bedeutete, er solle
sich mehr Gedanken um Gottes Liebe und Gottes Willen machen – und seine eigene,
bescheidene menschliche Rolle mit mehr Demut annehmen. Martin sei ein Mitglied der
Gesellschaft Jesu und solle sich dementsprechend verhalten; er sei noch nicht einer
dieser egozentrischen Sozialarbeiter – einer dieser Weltverbesserer, die sich selbst
ständig unter die Lupe nahmen, kritisierten und beglückwünschten.
»Das Schicksal
dieser Kinder liegt nicht in Ihrer Hand«, hatte Pater Julian dem Scholastiker erklärt,
»und keines von ihnen wird mehr oder weniger leiden, nur weil Sie es lieben – oder
auch nicht. Versuchen Sie, nicht mehr soviel über sich selbst nachzudenken. Sie
sind ein Werkzeug des göttlichen Willens und nicht Ihre eigene Schöpfung.«
Diese
Zurechtweisung empfand Martin Mills nicht nur als barsch, sondern auch als verwirrend.
Daß der Pater Rektor der Ansicht war, das Schicksal der Kinder sei ohnehin vorherbestimmt,
war seiner Meinung nach eine erstaunlich calvinistische Einstellung für einen Jesuiten.
Martin befürchtete, Pater Julian [858] könnte möglicherweise auch unter dem Einfluß
des Hinduismus leiden, denn diese Vorstellung hörte sich doch arg nach fatalistischer
Schicksalsergebenheit an. Und was war gegen Sozialarbeiter einzuwenden? War nicht
der heilige Ignatius von Loyola selbst ein unermüdlicher Sozialarbeiter gewesen?
Oder meinte der Pater Rektor nur, Martin solle das Schicksal der Zirkuskinder nicht
zu persönlich nehmen? Und die Tatsache, daß der Scholastiker im Interesse der Kinder
interveniert hatte, bedeute nicht, daß er für jede Kleinigkeit, die ihnen zustieß,
verantwortlich sei?
In diesem
Zustand geistiger Unklarheit unternahm Martin Mills einen Spaziergang durch Mazgaon.
Er hatte sich noch nicht weit von der Missionsstation entfernt, als er zu dem Slum
kam, den Dr. Daruwalla ihm gleich nach seiner Ankunft gezeigt hatte – die ehemalige
Filmkulisse, in der seine üble Mutter in Ohnmacht gefallen war, nachdem eine Kuh
sie getreten und abgeleckt hatte. Martin mußte daran denken, daß er sich aus dem
fahrenden Auto übergeben hatte.
An diesem
geschäftigen Montagvormittag wimmelte es in dem Slum von Menschen, aber der Missionar
hielt es für besser, dieses Elend nur in Form eines winzigen Ausschnitts zu betrachten.
Statt die ganze Sophia Zuber Road entlangzuschauen, so weit man sehen konnte, hielt
Martin den Blick auf seine sich langsam bewegenden Füße gesenkt. Er gestattete seinen
Augen nicht, weiter nach oben zu wandern, so daß die Slumbewohner auf Kniehöhe abgeschnitten
waren; er sah nur Gesichter von Kindern – und natürlich bettelten diese Kinder.
Er sah Hundepfoten und wühlende Hundeschnauzen, die nach etwas Eßbarem suchten.
Er sah ein Moped, das in den Rinnstein gerutscht oder gefallen war; um den Lenker
hatte jemand eine Girlande aus Ringelblumen geschlungen, als sollte das Moped für
die Einäscherung vorbereitet werden. Er stieß auf eine Kuh – eine ganze Kuh, nicht
nur die Hufe, da die Kuh am Boden lag. Es war [859] schwierig, an ihr vorbeizukommen.
Doch als Martin Mills stehenblieb, fand er sich, obwohl er schon zuvor langsam gegangen
war, in Windeseile umringt. In jedem Reiseführer sollte klar und deutlich gewarnt
werden: Bleiben Sie nie in einem Slum stehen!
Die Kuh
glotzte mit ihrem länglichen, traurigen und würdevollen Gesicht zu ihm hinauf; ihre
Augen waren von Fliegen umsäumt. Die weiche Haut an der gelbbraunen Flanke war abgescheuert
– die wunde Stelle, nicht größer als eine Faust, mit Fliegen überkrustet. Unter
dieser sichtbaren Abschürfung befand sich in Wirklichkeit eine tiefe Wunde, die
ein Fahrzeug, das einen Schiffsmast transportierte, der Kuh zugefügt hatte. Doch
Martin hatte den Zusammenstoß weder mit angesehen, noch gestattete ihm die wuselnde
Menge einen ausgiebigen Blick auf die tödliche Wunde der Kuh.
Plötzlich
teilte sich die Menge, und eine Prozession kam vorbei – Martin sah lediglich eine
Horde verrückter Blumenstreuer. Als die Gläubigen vorbeimarschiert waren, war die
Kuh mit Rosenblüten übersät. Ein paar Blütenblätter klebten neben den Fliegen auf
der Wunde. Die Kuh, die auf der Seite lag, hatte eines ihrer langen Beine ausgestreckt;
der Huf reichte fast bis an den Bordstein heran. Im Rinnstein, nur Zentimeter von
dem Huf entfernt, aber ohne ihn zu berühren, lag ein (unverkennbar) menschlicher
Kothaufen. Hinter diesem friedlichen, unbeeinträchtigten
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