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Zirkuskind

Zirkuskind

Titel: Zirkuskind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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Kommissar
genau darauf achtete, was Mrs. Dogar mit ihrer Handtasche machte. Sie saß an einem
Tisch für vier Personen, wie der Drehbuchautor vorgeschlagen hatte; das war Julias
Idee gewesen. Wenn nur zwei Personen an einem Vierertisch sitzen, hatte Julia gemeint,
legt eine Frau ihre Tasche normalerweise auf einen der freien Stühle und nicht auf
den Boden; und Farrokh hatte die Tasche auf einem Stuhl haben wollen.
    »Sie hat sie trotzdem
auf den Boden gestellt«, bemerkte Detective Patel.
    Dr. Daruwalla war
es nicht gelungen, seiner Frau diesen Lunch auszureden. Jetzt sagte Julia: »Das
kommt daher, daß sie keine richtige Frau ist.«
    »Dhar wird sich
schon darum kümmern«, meinte der Kommissar.
    Farrokh konnte an
nichts anderes denken als an die erschreckende Veränderung, die mit Mrs. Dogar vorgegangen
war.
    »Das liegt an dem
Mord, nicht wahr?« fragte der Doktor den Kriminalbeamten. »Ich meine, durch den
Mord ist sie vollkommen ruhig geworden… er hat eine rundum besänftigende Wirkung
auf sie, habe ich recht?«
    »Anscheinend bewirkt
er, daß sie sich wie ein junges Mädchen fühlt«, entgegnete Patel.
    »Es muß ihr schwergefallen
sein, sich wie ein junges Mädchen zu fühlen«, bemerkte Nancy. »Was für ein ungeheurer
Aufwand, nur um sich wie ein junges Mädchen zu fühlen.«
    Dann stand Dhar
im Raum, an Mrs. Dogars Tisch, begrüßte sie aber nicht mit einem Kuß, sondern näherte
sich ihr unbemerkt von hinten und legte ihr beide Hände auf die nackten Schultern.
Vielleicht lehnte er sich an sie, weil es aussah, als [863]  würde sie sich verspannen,
aber er versuchte nur die Tasche umzustoßen. Als ihm das gelungen war, hob er sie
auf und legte sie auf einen freien Stuhl.
    »Wir vergessen ja
ganz, uns zu unterhalten«, bemerkte der Kommissar. »Wir können die beiden nicht
nur anstarren und kein Wort reden.«
    »Bitte, Vijay, erschieße
sie«, sagte Nancy.
    »Ich habe keinen
Revolver bei mir, Herzchen«, log der Kommissar.
    »Was wird das Gericht
mit ihr machen?« fragte Julia den Kommissar.
    »In Indien gibt
es zwar die Todesstrafe«, sagte der Detective, »aber sie wird selten vollzogen.«
    »Der Tod erfolgt
durch Hängen«, erklärte Dr. Daruwalla.
    »Ja, aber im indischen
Rechtssystem gibt es keine Geschworenen«, sagte Patel. »Ein einzelner Richter entscheidet
über das Schicksal des Delinquenten. Lebenslange Haft und Zwangsarbeit sind sehr
viel üblicher als die Todesstrafe. Sie werden sie nicht aufknüpfen.«
    »Du solltest sie
gleich erschießen«, wiederholte Nancy.
    Sie sahen, daß Mr.
Sethna wie ein nervöses Gespenst um Mrs. Dogars Tisch herumflatterte. Dhars linke
Hand sahen sie nicht – sie befand sich unter dem Tisch, wahrscheinlich auf Rahuls
Oberschenkel oder in ihrem Schoß.
    »Unterhalten wir
uns doch weiter«, forderte Patel die anderen fröhlich auf.
    »Zum Teufel mit
dir, zum Teufel mit Rahul, zum Teufel mit Dhar«, sagte Nancy zu ihrem Mann. »Und
zum Teufel mit Ihnen«, sagte sie zu Farrokh. »Sie nicht, Sie mag ich«, erklärte
sie Julia.
    »Danke, meine Liebe«,
antwortete Julia.
    »Scheiße, Scheiße,
Scheiße«, sagte Nancy.
    »Ihre arme Lippe«,
sagte Mrs. Dogar gerade zu John D. So [864]  viel verstand Mr. Sethna, und soviel verstand
man auch im Ladies’ Garden, weil zu sehen war, wie Rahul Dhars Unterlippe mit ihrem
langen Zeigefinger antippte – nur eine kurze, federleichte Berührung. Dhars Unterlippe
leuchtete marineblau.
    »Ich hoffe, Sie
sind heute nicht zum Beißen aufgelegt«, sagte John D. zu ihr.
    »Ich bin heute sehr
gut aufgelegt«, entgegnete Mrs. Dogar. »Ich wüßte gern, wohin Sie mich bringen und
was Sie mit mir anstellen wollen«, sagte sie kokett. Es war peinlich, für wie jung
und reizvoll sie sich offenbar hielt. Sie hatte die Lippen geschürzt, wodurch die
tiefen Falten in den Winkeln ihres grausamen Mundes noch betont wurden; ihr Lächeln
war scheu und zurückhaltend, als würde sie sich vor einem Spiegel den überschüssigen
Lippenstift abtupfen. Ein winziger, entzündeter Schnitt, von grünem Lidschatten
weitgehend überdeckt, verlief quer über ein Augenlid. Er hatte zur Folge, daß sie
blinzelte, als täte ihr das Auge weh. Aber es war nur ein winziger Kratzer; mehr
hatte ihr die kleine Hure namens Asha nicht antun können – sie hatte eine Hand nach
hinten gerissen und Rahul ins Auge geschlagen – ein, zwei Sekunden, bevor Rahul
ihr das Genick brach.
    »Sie haben sich
am Auge verletzt, nicht wahr?« stellte Inspector Dhar fest, spürte

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