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Zirkuskind

Zirkuskind

Titel: Zirkuskind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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Inspektor
ging, knarzten seine schweren, derben Schuhe etwas zu laut auf dem Steinboden des
Speisesaals im Duckworth Club, so daß sein Abgang zwangsläufig Mr. Sethnas Mißbilligung
auf sich zog. Zweifellos hatte der alte Butler auch den Zustand seiner Polizeiuniform
mißbilligt; das Khakihemd war mit Resten einer thali bekleckert, mit der der Inspektor
beim Lunch aneinandergeraten sein mußte, auf seiner Brusttasche war ein satter Klecks dhal gelandet, und auf dem graubraunen
Hemdkragen des schmuddeligen Polizisten prangte ein heller Fleck (das auffällige
Gelborange des Kurkuma).
    Der zweite Polizeibeamte
hingegen, der sich jetzt dem Tisch im Ladies’ Garden näherte, war kein einfacher
Inspektor; dieser Mann bekleidete einen höheren Rang – und war deutlich besser und
ordentlicher angezogen. Er sah aus, als wäre er mindestens stellvertretender Kommissar.
Aufgrund seiner Recherchen – sämtliche Inspector-Dhar-Drehbücher waren penibel genau
recherchiert, wenn sie auch künstlerisch zu wünschen übrigließen – war Farrokh überzeugt,
daß gleich ein Kommissar vom Kriminalkommissariat am Crawford Market vor ihnen stehen
würde.
    »Und all das, nur
weil er Golf gespielt hat?« flüsterte Inspector Dhar, allerdings nicht so laut,
daß der näher kommende Kriminalbeamte es hören konnte.
    [99]  Unklug, solche Leute zu
beleidigen
    In dem
neuesten Inspector-Dhar-Film wurde darauf hingewiesen, daß das offizielle Gehalt
eines Polizeiinspektors in Bombay nur 2500 bis 3000 Rupien im Monat beträgt – etwa
100 Dollar. Um auf einen lukrativeren Posten versetzt zu werden, in einen Bezirk
mit hoher Kriminalität, mußte man als Inspektor einen Verwaltungsbeamten bestechen.
Gegen Bezahlung einer Summe zwischen 75000 und 200000 Rupien (im allgemeinen jedoch
weniger als 7000 Dollar) konnte sich ein Inspektor möglicherweise eine Versetzung
sichern, die ihm zwischen 300000 und 400000 Rupien pro Jahr (normalerweise nicht
mehr als 15000 Dollar) eintrug. Unter anderem warf der neue Inspector-Dhar-Film
die Frage auf, was ein Inspektor, der nur 3000 Rupien im Monat verdiente, anstellen
konnte, um an die für die Bestechung erforderlichen 100000 Rupien zu gelangen. Im
Film schafft das ein besonders scheinheiliger und korrupter Polizeiinspektor dadurch,
daß er ein Doppelleben als Zuhälter und Wirt eines Bordells mit Eunuchen-Transvestiten
an der Falkland Road betreibt.
    Das verkniffene
Lächeln des zweiten Polizeibeamten, der jetzt an den Tisch von Dr. Daruwalla und
Inspector Dhar trat, spiegelte die einhellige Empörung der Bombayer Polizei wider.
Die Prostituierten waren nicht weniger gekränkt; sie hatten noch mehr Grund, zornig
zu sein. Der jüngste Film, Inspector Dhar und der Käfigmädchen-Killer, hatte offenbar dazu geführt, daß
die armseligsten Prostituierten von Bombay – die sogenannten Käfigmädchen – jetzt
in besonderer Gefahr schwebten. Der Film über einen Massenmörder, der reihenweise
Käfigmädchen umbringt und ihnen jeweils einen unpassend fröhlichen Elefanten auf
den nackten Bauch malt, hatte anscheinend einen echten Mörder dazu veranlaßt, die
Idee aufzugreifen. Jetzt wurden echte Prostituierte ermordet und mit derartigen [100]  Karikaturen verziert. Die richtigen Morde waren bislang unaufgeklärt. Die hart
arbeitenden Huren im Rotlichtbezirk, entlang der Falkland und der Grant Road – und
überall in den zahlreichen Bordellen in den vielen Gassen des Stadtteils Kamathipura –, hätten Inspector Dhar am liebsten umgebracht.
    Besonders heftige
Rachegelüste gegenüber Dhar hatten die Eunuchen-Transvestiten-Prostituierten. Denn
in dem Film stellte sich heraus, daß der Massenmörder und Karikaturist ein kastrierter
Transvestit ist, der von der Prostitution lebt. Das war natürlich eine Beleidigung
für die Eunuchen-Transvestiten, denn weder waren sie allesamt Prostituierte, noch
waren sie notorische Serienkiller. Vielmehr bildeten sie in Indien ein allgemein
anerkanntes drittes Geschlecht; man nannte sie hijras. »Hijra« ist ein Urdu-Wort für das männliche
Geschlecht und bedeutet ›Hermaphrodit‹. Aber hijras sind keine geborenen Hermaphroditen;
sie sind kastriert – daher ist »Eunuchen« die treffendere Bezeichnung für sie. Außerdem
sind sie Kultfiguren. Als eifrige Anhänger der Muttergöttin Bahuchara Mata beziehen
sie ihre besondere Kraft – zu segnen oder zu verfluchen – aus der Tatsache, daß
sie weder männlich noch weiblich sind. Traditionsgemäß verdienen hijras ihren

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