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Zirkuskind

Zirkuskind

Titel: Zirkuskind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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Dogar erinnert Farrokh
an jemand anderen
    Fünfzehn
Jahre träumte Dr. Daruwalla von Deepa im Sicherheitsnetz. Das ist natürlich übertrieben,
so übertrieben wie Farrokhs Verblüffung darüber, daß Vinod mit seiner Limousine
im Laufe der Zeit in Bombay zu einer regelrechten Legende geworden war. Nicht einmal
auf dem Höhepunkt seines Erfolgs als Autofahrer hätte man Vinod zugetraut, daß er
eine richtige Limousine chauffieren – geschweige denn ein Taxiunternehmen gründen
– könnte. In seinen besten Zeiten besaß Vinod ein halbes Dutzend Wagen – darunter
die zwei auf Handbedienung umgerüsteten, die der Zwerg selbst fuhr; keiner davon
war ein Mercedes.
    Allerdings erzielte
Vinod nur kurzfristig bescheidene Gewinne mit seinen Privattaxis oder »Luxustaxis«,
wie sie in Bombay hießen. Vinods Autos waren keineswegs luxuriös, und ohne ein Darlehen
von Dr. Daruwalla hätte er sich auch diese eindeutig aus zweiter Hand stammenden
Fahrzeuge niemals leisten können. Wenn der Zwerg vorübergehend eine Legende war,
lag das nicht an der Anzahl oder der Ausstattung seiner Automobile – es waren nämlich
keine Limousinen. Vielmehr verdankte Vinod seinen legendären Ruf einem berühmten
Stammkunden, dem zuvor erwähnten Schauspieler mit dem unwahrscheinlichen Namen Inspector
Dhar. Dhar lebte bestenfalls ein Teil des Jahres in Bombay.
    Seine Bande zum
Zirkus konnte der arme Vinod nie ganz durchtrennen. Sein Sohn Shivaji war inzwischen
zum Teenager [92]  herangewachsen und litt, seinem Alter entsprechend, unter dezidierten
und prinzipiell konträren Ansichten. Wäre Vinod weiterhin Clown im Great Blue Nile
geblieben, hätte Shivaji dem Zirkus zweifellos den Rücken gekehrt. Wahrscheinlich
hätte sich der streitsüchtige Junge dazu entschlossen, in Bombay Taxi zu fahren
– nur weil ihm allein schon der Gedanke zuwider gewesen wäre, als komischer Zwerg
aufzutreten. Doch nachdem sein Vater alles darangesetzt hatte, der tagtäglichen
gefährlichen Schinderei im Great Blue Nile zu entrinnen und ein Taxiunternehmen
auf die Beine zu stellen, war Shivaji wild entschlossen, Clown zu werden. So kam
es, daß Deepa häufig mit ihrem Sohn umherreiste; und während der Blue Nile in ganz
Gujarat und Maharashtra gastierte, widmete sich Vinod in Bombay seinem Taxigeschäft.
    Die ganzen fünfzehn
Jahre war es dem Zwerg nicht gelungen, seiner Frau das Fahren beizubringen. Nach
ihrem Sturz hatte Deepa die Arbeit am Trapez aufgegeben, wurde vom Blue Nile jedoch
dafür bezahlt, daß sie Kinder zu Schlangenmenschen ausbildete. Während Shivaji sich
all das aneignete, was ein Clown können mußte, betreute seine Mutter die Schlangenmädchen
bei ihren Kautschuknummern. Wenn Vinods Sehnsucht nach Frau und Sohn zu groß wurde,
kehrte er in den Blue Nile zurück. Dort mied er die gefährlicheren Nummern aus dem
Repertoire der Zwergclowns und begnügte sich damit, die jüngeren Zwerge zu unterweisen,
darunter auch seinen Sohn. Doch egal ob man sich als Clown von einem Elefanten in
die Luft katapultieren, von Schimpansen jagen oder von einem Bären in ein Faß tunken
lassen muß – viel zu lernen gibt’s da nicht. Und regelrecht beigebracht kann einem
außer den anspruchsvollen konkreten Trainingseinheiten, die ausgiebiges Proben erfordern
– wie man von einem in seine Einzelteile zerfallenden Einrad springt und dergleichen –, eigentlich nur noch das Schminken, das richtige Timing und das Fallen. Vinod
hatte [93]  den Eindruck, daß im Great Blue Nile hauptsächlich das Fallen geübt wurde.
    Natürlich litt Vinods
Taxiunternehmen unter seiner Abwesenheit von Bombay, so daß er sich gezwungen sah,
wieder in die Stadt zurückzukehren. Da sich Dr. Daruwalla nur zeitweise in Indien
aufhielt, war er nicht immer auf dem laufenden, wo sich Vinod gerade befand. Der
Zwerg war ständig in Bewegung, wie gefangen in einer Clownsnummer, die kein Ende
nehmen wollte.
    Ähnliches läßt sich
von Farrokhs Angewohnheit sagen, seine Gedanken zu jenem weit zurückliegenden Abend
wandern zu lassen, an dem er mit der Nase auf Deepas Schambein geknallt war. Freilich
war das nicht das einzige Bild vom Zirkus, das ihm regelmäßig in den Sinn kam. Doch
die kratzigen Pailletten auf Deepas engem Trikot und dazu die widersprüchlichen
Gerüche, aus denen sich Deepas erdiger Duft zusammensetzte, waren verständlicherweise
die lebhaftesten Eindrücke, die der Zirkus bei Farrokh hinterlassen hatte. Und nie
träumte er mit offenen Augen so lebhaft vom Zirkus wie dann,

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