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Zirkuskind

Zirkuskind

Titel: Zirkuskind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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wenn ihm etwas Unangenehmes
bevorstand.
    Jetzt gerade ertappte
sich Dr. Daruwalla bei dem Gedanken, daß sich Vinod fünfzehn Jahre lang beharrlich
geweigert hatte, ihm auch nur ein einziges Röhrchen Blut zu geben. Der Doktor hatte
nahezu jedem aktiven Zwergclown – in nahezu jedem Zirkus in ganz Gujarat und Maharashtra
– Blut abgenommen, Vinod jedoch nicht einen Tropfen. Wenngleich ihn diese Tatsache
sehr erboste, verweilte er mit seinen Gedanken doch lieber dabei, als sich mit dem
dringlicheren Problem des nahenden Zwillingsbruders zu befassen.
    Dr. Daruwalla war
ein Feigling. Daß Mr. Lal, ohne Netz, auf dem Golfplatz umgefallen war, war kein
Grund, Inspector Dhar die beunruhigende Nachricht nicht zu übermitteln. Aber der
Doktor brachte ganz einfach nicht den Mut auf.
    Es war typisch für
Dr. Daruwalla, vor allem dann ausgiebig [94]  Witze zu erzählen, wenn ihm eine beunruhigende
Selbsterkenntnis gekommen war. Für Inspector Dhar war es typisch, daß er schwieg
– wobei dieses ›typisch‹ davon abhing, welchen Gerüchten man glaubte. Dhar wußte,
daß Farrokh Mr. Lal gern gemocht hatte und meist dann zu seinem bissigen Humor Zuflucht
nahm, wenn er sich von etwas ablenken wollte, das ihn unglücklich machte. Jetzt
verbrachte Dhar beim Lunch im Duckworth Club die meiste Zeit damit, Dr. Daruwalla
zuzuhören, der sich des langen und breiten über diese neuerliche Beleidigung der
Parsen ausließ: daß die Geier den letzten toten Parsen unbeachtet gelassen hatten,
weil sie sich um Mr. Lal auf dem Golfplatz kümmerten. Farrokh konnte der Vorstellung,
daß eifrige Anhänger der Lehre Zarathustras über die Ablenkung der Geier durch den
toten Golfspieler in Harnisch geraten würden, durchaus eine gewisse Komik abgewinnen.
Dr. Daruwalla meinte, man solle Mr. Sethna fragen, ob er sich gekränkt fühle; während
der gesamten Mahlzeit war der alte Butler mit beleidigter Miene herumgelaufen, obwohl
der gegenwärtige Stein des Anstoßes offenbar die zweite Mrs. Dogar war. Es war offensichtlich,
daß Mr. Sethna diese Frau mißbilligte, egal was sie vorhaben mochte.
    Sie hatte sich bewußt
so an ihren Tisch gesetzt, daß sie Inspector Dhar anstarren konnte, der ihren Blick
nicht ein einziges Mal erwiderte. Dr. Daruwalla vermutete, daß hier wieder einmal
eine aufdringliche Frau Dhars Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen suchte – mit Sicherheit
vergeblich. Der Doktor hätte der zweiten Mrs. Dogar schon jetzt sagen können, daß
die Gleichgültigkeit des Schauspielers sie kränken würde. Eine Zeitlang hatte sie
ihren Stuhl sogar ein Stück weit zurückgeschoben, so daß man ihren reizenden, von
den gewagten Farben ihres Sari wunderschön umrahmten Nabel sehen konnte; er zeigte
auf Inspector Dhar wie ein einzelnes, fest entschlossenes Auge. Während Inspector
Dhar Mrs. Dogars Avancen offenbar [95]  nicht bemerkte, fiel es Dr. Daruwalla äußerst
schwer, die Frau nicht anzusehen.
    Seiner Ansicht nach
benahm sie sich für eine verheiratete Frau in mittleren Jahren – Dr. Daruwalla schätzte
sie auf Anfang Fünfzig – ziemlich schamlos. Trotzdem fand er die zweite Mrs. Dogar
attraktiv, oder vielmehr gefährlich attraktiv. Er kam nicht recht dahinter, was
er an dieser Frau so anziehend fand, deren lange, muskulöse Arme ihr wenig schmeichelten
und deren mageres, hartes Gesicht jene herausfordernde Attraktivität besaß, die
eher zu einem Mann paßte. Gewiß, ihr Busen war wohlgeformt (wenn auch nicht üppig),
ihr Po stramm und fest – zumal für eine Frau ihres Alters –, und ihre lange Taille
und der vorher erwähnte Nabel unterstrichen zweifellos noch das erfreuliche Erscheinungsbild,
das sie in einem Sari bot. Aber sie war zu groß, hatte zu breite Schultern, und
ihre großen, nervösen Hände spielten mit dem Besteck herum, als wäre sie ein gelangweiltes
Kind.
    Außerdem hatte Farrokh
einen kurzen Blick auf Mrs. Dogars Füße erhascht – offenbar hatte sie unter dem
Tisch die Schuhe abgestreift. Genauer gesagt erblickte er nur einen Fuß, und der
war nackt und schwielig; um das erstaunlich plumpe Fußgelenk hing lose ein goldenes
Kettchen, und ein breiter Goldreif umschloß eine der klauenähnlichen Zehen.
    Daß der Doktor Mrs.
Dogar attraktiv fand, lag vielleicht daran, daß sie ihn an jemand anderen erinnerte,
doch er kam nicht darauf, wer das sein könnte. Vielleicht ein ehemaliger Filmstar.
Dann fiel dem Doktor, dessen Patienten ja Kinder waren, ein, daß er die neue Mrs.
Dogar womöglich als Kind

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