Zirkuskind
Vinod hatte sie verpaßt. Der
verlassene Verkehrspolizist meinte, er wäre dem [919] Zwerg sehr verbunden, wenn er
ihn die Sophia Zuber Road entlangfahren würde, nur damit er sich vergewissern konnte,
daß es nicht noch mehr Ärger gab. Und so fuhr Vinod, mit dem einsamen Wachtmeister
als Fahrgast, langsam durch einen der besseren Slums von Bombay.
Es gab nicht viel
zu sehen. Noch mehr Obdachlose wachten auf, aber die Slumbewohner schliefen noch.
In dem Abschnitt der Sophia Zuber Road, in dem Martin Mills vor knapp einem Monat
der tödlich verwundeten Kuh begegnet war, sahen Vinod und der Verkehrspolizist das
Ende der Prozession – ein paar singende Sadhus, die üblichen Blütenstreuer. Im Rinnstein,
wo die Kuh schließlich verendet war, war ein riesiger, eingetrockneter Blutfleck.
Die Prozession und die damit einhergehenden Unruhen hatten lediglich dem Zweck gedient,
den Kadaver der toten Kuh wegzuschaffen. Einige Glaubenseiferer hatten es fertiggebracht,
die Kuh die ganze Zeit am Leben zu erhalten.
Dieser Eifer entsprach
auch nicht Gottes Willen, hätte Dr. Daruwalla gesagt; auch diese zum Scheitern verurteilte
Mühe war »eben einfach Indien«, und das war mehr als Grund genug.
[920] 27
Epilog
Der freiwillige Helfer
An einem
Freitag im Mai, mehr als zwei Jahre nachdem die Daruwallas aus Bombay nach Toronto
zurückgekehrt waren, hatte Farrokh das dringende Bedürfnis, seinem Freund Macfarlane
Little India zu zeigen. Sie fuhren in der Mittagspause mit Macs Auto los, aber die
Gerrard Street war so verstopft, daß bald klar war, daß ihnen nicht viel Zeit für
den Lunch bleiben würde; womöglich reichte die Zeit kaum für den Weg nach Little
India und zurück ins Krankenhaus.
In den letzten achtzehn
Monaten hatten sie ihre Mittagspause immer gemeinsam verbracht, seit jenem Tag,
an dem sich herausstellte, daß Macfarlane HIV -positiv war. Macs Freund, der homosexuelle
Genetiker Dr. Duncan Frasier, war ein Jahr zuvor an Aids gestorben. Danach hatte
Farrokh niemanden mehr gefunden, mit dem er über die Vorzüge seines Zwergenblutprojekts
hätte debattieren können, und Mac hatte keinen neuen Freund gefunden.
Der Stenogrammstil,
in dem sich Dr. Daruwalla und Dr. Macfarlane über die Tatsache unterhielten, daß
Mac mit dem Aidsvirus lebte, war ein Musterbeispiel für emotionale Zurückhaltung.
»Wie geht es denn
so?« pflegte Dr. Daruwalla zu fragen.
»Gut«, antwortete
Dr. Macfarlane dann meistens. »Ich bin von AZT weg und auf DDI umgesetzt worden. Hab ich dir das
nicht gesagt?«
»Nein, aber wieso denn? Sind deine T-Zellen abgefallen?«
»Kann man so sagen«,
meint Mac. »Unter zweihundert. Mit [921] AZT habe ich mich beschissen gefühlt,
deshalb hat Schwartz beschlossen, mich auf DDI umzusetzen. Jetzt fühle ich mich
besser. Ich habe mehr Kraft. Und ich nehme prophylaktisch Bactrim… um einer Pneumocystis-carinii-Pneumonie
vorzubeugen.«
»Aha«, meint darauf
Farrokh.
»Es ist nicht so
schlimm, wie es sich anhört. Ich fühle mich großartig«, sagt Mac dann meistens.
»Wenn das DDI nicht mehr wirkt, gibt es noch DDC und vieles andere… hoffe ich.«
»Ich bin froh, daß
du das so siehst«, sagt Farrokh unwillkürlich.
»In der Zwischenzeit«,
fährt Macfarlane fort, »spiele ich dieses kleine Spiel. Ich sitze da und stelle
mir meine gesunden T-Zellen vor, ich male mir aus, wie sie sich dem Virus widersetzen.
Ich sehe, wie sie darauf schießen und wie das Virus von einem Kugelhagel zerstört
wird… das jedenfalls ist so die Idee.«
»Stammt die Idee
von Schwartz?« fragt Dr. Daruwalla.
»Nein, das ist meine
Idee!«
»Hört sich ganz
nach Schwartz an.«
»Und außerdem gehe
ich in eine Selbsthilfegruppe«, fügt Mac hinzu. »Selbsthilfegruppen gehören anscheinend
zu den Dingen, die in unmittelbarer Relation zur Lebenserwartung stehen.«
»Wirklich?« fragt
Farrokh.
»Wirklich«, bestätigt
Macfarlane. »Und natürlich das, was man als ›Verantwortung für die Krankheit übernehmen‹
bezeichnet… nicht passiv zu sein und nicht unbedingt alles hinzunehmen, was einem
der Arzt erzählt.«
»Armer Schwartz«,
meint Dr. Daruwalla. »Ich bin heilfroh, daß ich nicht dein Arzt bin.«
»Damit sind wir
schon zwei«, meint Mac.
So etwa sahen ihre
zweiminütigen Lagebesprechungen aus. Normalerweise handelten sie das Thema so rasch
ab – versuchten es zumindest, da sie ihre Mittagspause lieber mit anderen [922] Dingen
verbrachten; zum Beispiel Dr. Daruwallas plötzlichem Bedürfnis
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