Zirkuskind
auf unverschämtes
Benehmen grundsätzlich heftig reagierte – sie waren zu gut erzogen und alt genug,
um Intoleranz nicht zu tolerieren. Doch eines hatten Farrokh und Julia nicht bedacht,
nämlich daß sich die Stewards vielleicht nicht wegen der Unannehmlichkeit, sondern
wegen des Textes auf dem Schild so abweisend verhalten hatten; möglicherweise fanden
auch sie es empörend, daß Dienstboten, außer in Begleitung von Kindern, den Aufzug
nicht benutzen durften.
Dieses kleine Mißverständnis
würde wohl nie aufgeklärt werden; und Farrokh fand die mürrische Stimmung durchaus
angemessen für jemanden, der sein Geburtsland zum letztenmal verließ. Die ›Times
of India‹, in die Vinod das gestohlene Schild [917] eingewickelt hatte, sagte ihm auch
nicht zu. Unter den Nachrichten der letzten Tage nahm der Bericht über eine Lebensmittelvergiftung
in Ost-Delhi breiten Raum ein. Zwei Kinder waren gestorben, und weitere acht mußten
ins Krankenhaus gebracht werden, nachdem sie »alte« Lebensmittel von einer Müllhalde
im Stadtteil Shakurpur verzehrt hatten. Da Dr. Daruwalla diese Berichte mit großer
Aufmerksamkeit verfolgt hatte, wußte er, daß die Kinder nicht an »alten« Nahrungsmitteln
gestorben waren – die blöden Journalisten meinten »verfault« oder »verseucht«.
Farrokh konnte es
kaum erwarten, daß das Flugzeug endlich startete. Wie Dhar bevorzugte er einen Sitzplatz
am Gang, weil er vorhatte, Bier zu trinken, und dann pinkeln mußte; Julia saß in
der Regel am Fenster. Es würde fast 10 Uhr morgens Ortszeit sein, bis sie in England
landeten, was bedeutete, daß es auf der ganzen Strecke bis Delhi dunkel sein würde.
Dem Doktor wurde bewußt, daß er buchstäblich schon vor dem Abflug seinen letzten
Blick auf Indien geworfen hatte.
Auch wenn Martin
Mills vielleicht gern behauptet hätte, es sei Gottes Wille (daß Dr. Daruwalla Bombay
Lebewohl sagte), hätte der Doktor ihm nicht zugestimmt. Es war nicht Gottes Wille;
es lag an Indien, das nicht jedermanns Sache war – wie Pater Julian, ohne daß Dr.
Daruwalla das wußte, behauptet hatte. Es war nicht Gottes Wille, dessen war sich
Farrokh sicher. Es lag eben einfach an Indien, und das war mehr als Grund genug.
Als der Air-India-Flug
185 von der Startbahn in Sahar abhob, fuhr Dhars schlägernder Taxichauffeur bereits
wieder ziellos durch die Straßen von Bombay. Er weinte noch immer und war viel zu
aufgeregt, um zu schlafen. Vinod war zu spät nach Bombay zurückgekehrt, um die letzte
Show im Wetness Cabaret mitzubekommen, wo er Madhu kurz zu sehen gehofft hatte.
Er würde ein andermal nach ihr Ausschau halten müssen. [918] Deprimiert fuhr er im
Rotlichtbezirk herum, obwohl es ansonsten eine Nacht war wie jede andere – er hätte
durchaus ein umherirrendes Kind auflesen und retten können. Um drei Uhr morgens
kamen ihm die Bordelle vor wie ein bankrotter Zirkus. Der ehemalige Clown stellte
sich die Käfige mit leblosen Tieren vor – die Reihen mit Zelten voller erschöpfter
und verletzter Artisten. Er fuhr weiter.
Es war fast vier
Uhr früh, als Vinod seinen Ambassador in der Seitenstraße neben dem Apartmenthaus
der Daruwallas am Marine Drive parkte. Niemand sah ihn in das Gebäude hineinschlüpfen,
aber er ging in der Eingangshalle so lange heftig schnaufend umher, bis er alle
Hunde im ersten Stock zum Bellen gebracht hatte. Dann taumelte er zu seinem Taxi
zurück; die Beschimpfungen der zeternden Hausbewohner, die zuvor schon durch die
Nachricht aufgescheucht worden waren, daß ihr überaus wichtiges Aufzugsschild gestohlen
worden war, trugen nur wenig dazu bei, seine Stimmung zu heben.
Wohin der betrübte
Zwerg auch fuhr, das Leben in der Stadt schien sich ihm zu entziehen. Im fahlen
Licht vor Einbruch der Dämmerung wachten bereits die ersten Obdachlosen auf. Vinod
hielt den Ambassador an, um mit einem Verkehrspolizisten in Mazgaon zu scherzen.
»Wo ist denn der
Verkehr geblieben?« fragte der Zwerg den Wachtmeister. Dieser hatte seinen Stab
in der Hand, als gelte es, eine Menschenmenge oder aufrührerische Horden zu dirigieren.
Aber nirgends war ein Mensch zu sehen: kein Auto, kein einziges Fahrrad, kein Fußgänger.
Die wenigen Obdachlosen, die schon wach waren, hatten sich aufgesetzt oder hockten
auf den Fersen. Der Wachtmeister erkannte Dhars Chauffeur – jeder Verkehrspolizist
kannte Vinod. Er sagte, es hätte irgendwelche Unruhen gegeben – eine religiöse Prozession,
die aus der Sophia Zuber Road geströmt war –, aber
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