Zirkuskind
für einen Skandal.
Wirklich ein kleines
Wunder war es nach Ansicht von Detective Patel, daß nie jemand von den in Mahalaxmi
entwischten Kobras gebissen wurde. Offenbar hatten sich diese Kobras (nach Aussage
des Kommissars) dem Bombayer Leben »assimiliert«, ohne daß ein einziger Biß gemeldet
wurde.
Kein Wunder war, daß die Telefonanrufe
der Frau, die sich Mühe gab, wie ein Mann zu klingen, weitergingen – nicht nur nach
Rahuls Verhaftung, sondern auch noch nach dessen Tod. Für Dr. Daruwalla war es irgendwie
tröstlich zu wissen, daß der Anrufer niemals Rahul gewesen war. Kein einziges Mal
ließ er etwas aus, fast als würde er von einem Manuskript ablesen. »Der Kopf Ihres
Vaters war ab, total ab! Ich habe ihn auf dem Beifahrersitz liegen sehen, bevor
das Auto in Flammen aufging.«
[939] Farrokh hatte
gelernt, die nie erlahmende Stimme zu unterbrechen. »Ich weiß, das weiß ich bereits«,
sagte er dann. »Und seine Hände konnten das Lenkrad nicht loslassen, obwohl seine
Finger in Flammen standen – das wollten Sie mir doch noch erzählen, oder? Ich weiß
es bereits.«
Aber die Stimme
gab nicht nach. »Ich habe es getan. Ich habe ihm den Kopf weggepustet«, sagte die
Frau, die sich Mühe gab, wie ein Mann zu klingen. »Und ich sage Ihnen, er hat es
verdient. Ihre ganze Familie hat es verdient.«
»Fick dich doch
ins Knie«, hatte Farrokh zu sagen gelernt, obwohl er Ausdrücke dieser Art im allgemeinen
ablehnte.
Manchmal sah sich
der ehemalige Drehbuchautor das Video von Inspector Dhar und der Käfigmädchen-Killer (das mochte er am liebsten) oder Inspector
Dhar und die Türme des Schweigens an, den seiner Ansicht nach am meisten unterschätzten Dhar-Film.
Aber nicht einmal Mac, seinem besten Freund, vertraute Farrokh an, daß er jemals
Drehbücher geschrieben hatte – nicht ein Wort. Inspector Dhar gehörte seiner Vergangenheit
an. John D. hatte Dhar fast vollständig hinter sich gelassen. Dr. Daruwalla war
noch nicht soweit.
Seit drei Jahren
neckten ihn die Zwillinge bei jeder Gelegenheit. Weder John D. noch Martin Mills
wollten ihm verraten, was sich auf dem Flug in die Schweiz zwischen ihnen abgespielt
hatte. Während der Doktor nach Klarheit strebte, verwirrten ihn die beiden mit Absicht;
bestimmt wollten sie ihn nur ärgern – Farrokh war wirklich spaßig, wenn er sich
ärgerte. Die enervierendste (und am wenigsten glaubwürdige) Antwort des ehemaligen
Inspector Dhar lautete: »Ich kann mich nicht mehr erinnern.« Martin Mills hingegen
behauptete, sich genau an alles zu erinnern. Aber Martin erzählte nie zweimal dieselbe
Geschichte, und wenn John D. doch einmal zugab, daß er sich an etwas erinnerte,
widersprach seine Version unweigerlich der des ehemaligen Missionars.
[940] »Versuchen wir
doch mal, am Anfang anzufangen«, pflegte Dr. Daruwalla dann zu sagen. »Mich interessiert
der Augenblick, in dem ihr euch erkannt habt, in dem euch klar wurde, daß ihr sozusagen
eurem zweiten Ich Aug in Auge gegenübersteht.«
»Ich bin als erster
ins Flugzeug gestiegen«, versicherten ihm dann beide Zwillinge.
»Ich tue immer dasselbe,
wenn ich Indien verlasse«, beharrte der pensionierte Inspector Dhar. »Ich suche
mir meinen Sitzplatz und lasse mir vom Steward das übliche Gratis-Toilettenset geben.
Dann gehe ich in die Toilette und rasiere mir den Schnurrbart ab, während die anderen
Leute einsteigen.«
Das zumindest stimmte.
John D. hielt sich stets an dieses Ritual, um Inspector Dhar abzustreifen. Das war
eine erwiesene Tatsache, eine der wenigen, an die sich Farrokh klammern konnte:
Beide Zwillingsbrüder waren ohne Schnurrbart, als sie sich begegneten.
»Ich saß auf meinem
Platz, als dieser Mann aus der Toilette kam, und bildete mir ein, ihn wiederzuerkennen«,
sagte Martin.
»Du hast zum Fenster
hinausgeschaut«, erklärte John D. »Du hast dich umgedreht und mich angesehen, nachdem
ich mich neben dich gesetzt und deinen Namen gerufen habe.«
»Du hast seinen
Namen gerufen?« fragte Dr. Daruwalla jedesmal.
»Natürlich. Ich
wußte sofort, wer er war«, sagte darauf der ehemalige Inspector Dhar. »Im stillen
dachte ich: Farrokh kommt sich sicher unglaublich schlau vor, daß er für jeden von
uns ein Drehbuch geschrieben hat.«
»Er hat nie meinen
Namen gesagt«, erklärte Martin dem Doktor. »Ich weiß noch, daß ich dachte: Das ist
Satan, und Satan beliebt es, so auszusehen wie ich, meine Gestalt anzunehmen… was
für eine grausige Vorstellung! Ich dachte, du seist meine
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